Die Geschichte Jesu von Nazareth und die Anfänge der Christenheit üben bis heute eine anhaltende Faszination aus. Die Christenheit von Heute und besonders die Großkirchen werden dagegen von vielen Zeitgenossen eher kritisch betrachtet. Es stehen populäre Vorwürfe im Raum: Haben die Christen Jesus verraten? Ist Jesus an seinen Nachfolgern gescheitert? Haben seine Jünger alles verdreht und verfälscht? Haben sich die Kirchen zu sehr von ihren Anfängen entfernt? Wir wollen die Anfänge der Kirche und nach Hintergründen dieser Entwicklung fragen. Natürlich beginnen wir mit Jesus.
Jesus aus Nazareth begegnet in Israel Menschen und ruft sie in seine Nachfolge. Seine Verkündigung spricht Männer und Frauen auf ungewohnte Weise an, da sie seine Lehre voller „Vollmacht“ erleben (Matth. 7,29). Zu seiner Vollmacht gehört sein lebendiger Predigtstil, vor allem der umwälzende Inhalt und auch die tatkräftigen Zeichen und Wunder, die er tut. Er verkündet das nahende Reich Gottes:
„Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Mark. 1,15)
So strömen viele zu ihm, um ihn zu hören und zu sehen, was er tut. Viele bringen Kranke zu ihm, damit er sie heilt (Matth. 4,23 ff.). Nahezu spontan verlassen Einzelne ihre Heimat, ihren Beruf und sogar ihre Familien und folgen Jesus nach, sie machen sich auf den Weg und gehen mit. Die Begegnung mit Jesus löst so die Jesus-Bewegung aus. Manche bleiben dauerhaft bei ihm, andere werden von ihm nach Hause entlassen. In den etwa drei Jahren seiner Wanderschaft kehrt er bei einigen öfter ein.
Zwölf Schüler werden die Keimzelle des neuen Gottesvolkes und die Sendboten des Messias. Nach ihrer Berufung gibt er ihnen Macht über die unreinen Geister und Krankheiten und sendet sie aus: „Geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel und verkündet: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus“ (Matth 10,7 f.). Damit nimmt er sie in sein Wirken hinein: In seinem Namen reden und handeln sie, sie sind „Botschafter an Christi statt“ (2.Kor 5,20), wie Paulus es später formulieren wird.
Nun wird Armen das Evangelium gepredigt, Gefangene werden befreit, Blinde sehen, Zerschlagene in die Freiheit entlassen, wie es in Jes 61,1-2 geschrieben steht (Luk 4,16-21). Seine Botschaft wird von den einen jubelnd angenommen und von anderen bestürzt abgelehnt.
Nach der Kreuzigung sind Jesu Anhänger zunächst verängstigt und halten sich im Verborgenen auf, wie uns alle Evangelien übereinstimmend berichten. Mit seiner Auferstehung scheinen die Jünger nicht wirklich gerechnet zu haben. Wie sollten sie auch damit rechnen? Doch dann finden Begegnungen mit dem Auferstandenen statt, die der Jesus-Bewegung neues Leben einhauchen. Die Jesusnachfolger erleben so ihre Erweckung. Der auferstandene Jesus sammelt seine Jünger, sie erwachen aus ihrer resignativen Stimmung und stellen sich erneut Jesus zur Verfügung. Er gibt ihnen ihren Auftrag:
„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles zu halten, was ich euch befohlen habe! Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matth 28,18-20)
Nach Jesu Auferstehung übernehmen die Apostel die Arbeit, sie haben das Leben mit Jesus geteilt, seine Lehren aufgenommen und beherzigt. Aber erst seit Pfingsten (Apg 2) treten sie an die Öffentlichkeit.
Die Christen finden ihre Einheit im Bekenntnis zu Christus als Herrn (griechisch kyrios) und formulieren damit zugleich das Programm der neuen Organisation: Jesus ist der Herr! Danach benennt sich später ein Teil der weltweiten Gemeinde Jesu: Kirche (von althochdeutsch kiricha) leitet sich etymologisch von kyrios her. Mit dem Programm „Jesus ist der Herr!“ steht die Kirche in Konkurrenz zu anderen religiösen Gruppen.
Als Sprecher der ersten Stunde erleben wir in Jerusalem Petrus, an seiner Seite stehen Johannes und bald Jakobus, der Bruder Jesu. Sie werden von Paulus als drei Säulen bezeichnet.
Die Ämter in den übrigen Gemeinden der Apostelzeit erscheinen in den Überlieferungen ähnlich. Viele Gemeinden haben einen von den Aposteln eingesetzten Leitungskreis, wobei Apostel wie Paulus und Petrus durch das Missionsgebiet reisen und Visitationen durchführen (vgl. 1. Kor 5 und 14). Zwischen ihren Besuchen schreiben Gemeinden offenbar Briefe an den Apostel, auf die Paulus mit seinen Briefen reagiert. In seinen Briefen ringt er daher um das Einvernehmen mit den Christen vor Ort. Immer wieder tritt er als Lehrer auf, mitunter erscheint er wie ein Mentor.
Die Gemeinden sind selbständig, jede einzelne besteht für sich und ist auf Christus bezogen, der ihr Haupt ist und dem alle Diener verantwortlich sind, wie Paulus in 1. Kor. 3,5 schreibt. In seinen Gemeinden setzt Paulus Bischöfe (was im Deutschen so viel wie Aufseher oder Inspektoren bedeutet) und Diakone ein. Daneben werden Presbyter (also Älteste) erwähnt; allerdings sind die Begriffe nicht streng voneinander abgegrenzt (Apg. 20,17.28).
Vielleicht ist die Bezeichnung Bischof (Aufseher) an die zeitgenössischen Bauaufseher angelehnt. Denn ziemlich oft gebraucht Paulus, wenn er von Gemeinde spricht, das Bild der Baustelle. So mag dieses Bild auch im Hintergrund gestanden haben, als ein Begriff für diese Aufgabe gesucht worden ist.Gerade bei Paulus sehen wir, dass es neben Bischöfen, Presbytern und Diakonen noch weitere „Dienste“ in den frühen Gemeinden gibt.
Es sind verschiedene Charismen, aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Dienste (griechisch Diakonia), aber es ist ein Herr (Kyrios). Und es sind verschiedene Kräfte, aber es ist ein Gott, alles in allen wirkend (1. Kor 12,4-6).
Die einzelnen Gemeinden spricht Paulus als Ekklesia (eigentlich Versammlung) an, damit übernimmt er den Sprachgebrauch der Septuaginta, den bereits Jesus aufgenommen hat: ekklesia bezeichnet in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments das Volk Gottes. Der Begriff ist bei den Griechen durch die Volksversammlungen der griechischen Stadtstaaten bekannt. Bei diesen werden die Bürger zu Entscheidungen aus ihren Häusern herausgerufen, um sich zu versammeln. So ist der Ruf Gottes an die Christen ergangen, sie sind aus dieser Welt herausgerufen in das Reich Gottes. Mitten in der Welt und unter vielen Völkern stellen sie das Volk Gottes dar, welches Er versammelt. Diese Bezeichnung als Versammlung entspricht auch der Lebendigkeit der Gemeinden.
Mit Ekklesia werden im Neuen Testament sowohl die einzelnen Gemeinden (wie in Rom oder Korinth) bezeichnet als auch die Hausgemeinden in großen Städten wie Rom. Aber es bezeichnet auch die gesamte Christenheit im Sinne unseres deutschen Wortes Kirche. Im Zuge des 1. Jh. entwickelt sich aus der Jesusbewegung die soziale Struktur einer Organisation, die bewusst gegründet worden ist, die Ziele verfolgt und sich von anderen unterscheidet und abgrenzt, die Aufgaben erfüllt und dazu „Ämter“ entwickelt. Dreh- und Angelpunkt dieser Organisation sind die einzelnen Gemeinden vor Ort, die ein Netzwerk bilden und miteinander in Beziehung stehen. Soziologisch kann man die Gemeinden als Organisation im engeren Sinne beschreien: sie regeln die Mitgliedschaft, folgen dem Zweck der Mission und des gemeinsamen Lebens und bilden Hierarchien aus. Diese bestehen zunächst in der Beziehung zu den Aposteln der ersten Stunde, wie es am Apostelkonzil gezeigt werden kann: Apostel und Älteste fällen gemeinsam eine Entscheidung über die Zugehörigkeit und Voraussetzung der Gemeinde-Mitglieder. Darüber hinaus haben Apostel wie Paulus überragende Bedeutung für „ihre“ Gemeinden, an sie wendet man sich mit theologischen Fragen, sie schreiben Briefe an die Gemeinden. Innerhalb der Ortsgemeinden haben Bischöfe und Älteste die Verantwortung übernommen, wobei deren Kompetenzen noch nicht im Einzelnen festgelegt sind. Neben diesen „Amtsträgern“ gibt es eine Fülle von Begabungen, die die einzelnen einbringen.
So hilfreich diese sozialwissenschaftliche Beschreibung ist, so ergibt sich eine weitere Dimension, die diesen Rahmen sprengt. Wie in anderen Religionen auch sehen sich die Gläubigen auf eine andere Dimension bezogen, die mit dem Urgrund des Seins nur sehr schwach beschrieben werden kann. Für die Christen des 1. Jh. ist der auferstandene Jesus der Herr der Gemeinde wie der einzelnen Christen. Von Anfang an wird dies im Bekenntnis Jesus Christus ist der Herr zusammengefasst. Dass Gottes Geist auf die Glaubenden ausgegossen worden ist, durchzieht namentlich die Apostelgeschichte wie ein roter Faden! Durch ihn lenkt Gott das Wirken der Missionare, so macht Gott Geschichte, hinterlässt seine Spuren in der Geschichte.
Unterm Strich
Was ist die Kirche? Das Wort kommt vom grch. „kyrios“ (Herr), Kirche gehört insofern zum Kyrios, zum Herrn. Das ist keine statische Größe, sondern eine Angelegenheit der Beziehung. Wer zu Jesus gehört, der ist Teil der Kirche Jesu. Kirche ist eine Mischung aus Ereignis und Institution. Die Jesusbewegung entsteht aus der Begegnung von Menschen mit Jesus von Nazareth (Ereignis). Wer zu ihm kommt und in seiner Nachfolge lebt, tritt in die große Familie Gottes ein, gehört zum herausgerufenen Volk Gottes, der Kirche oder Gemeinde Jesu. Kirche ist insofern immer Ereignis: Wo Menschen Jesus Christus begegnen, wo sie umkehren und nachfolgen, da wird Glaube geboren und ereignet sich Gemeinde.
Die Gemeinde lebt vom heiligen Geist, der in den Glaubenden wohnt und ihnen Kraft und Stärke schenkt, sie führt und leitet. So hält und erhält Jesus sein Volk, seine Gemeinde. Glaube lebt immer von Ereignis und Erfahrung. Man erinnert sich der Erlebnisse mit Jesus, man merkt sich bestimmte Hochzeiten, aber auch Niederlagen und Brüche. Immer wieder machen Menschen die schmerzliche Erfahrung, dass sie aus ihrer Kraft nichts tun können, ja das sie sich immer wieder verrennen, Holzwege beschreiten und sich verirren. Immer wieder müssen sie sich von Jesus wieder finden und erneuern lassen.
Aber Glaube sucht auch nach Gestaltung und strebt nach Dauer. Hierzu muss sich ein Mensch einrichten, eine Gruppe muss Regeln aufstellen, sie muss Institution werden. Wer nur aus dem Ereignis lebt, verbraucht seine Kräfte, betreibt Raubbau an seinen Möglichkeiten. Durch Einrichtungen erreicht man Dauer. Wenn aber nur Ordnungen aufgestellt werden, werden Ereignisse schier unmöglich. Durchorganisierte Institutionen werden durch die Schwerfälligkeit ihrer Ordnungen zu etwas Statischem. So können auch Gemeinden zu Standbildern werden. Sie werden reif für einen Bildersturm.So ist Kirche stets Ereignis und Institution zugleich. Das Geheimnis der Kirche Jesu besteht aber darin, dass Jesus Christus in ihr lebt, sie erneuert und begleitet. Er und sein Geist sind nicht an eine bestimmte Organisationsform gebunden. Wo er bestimmt und Menschen begegnet, da finden wir Kirche. Heute wie damals. Und weil Gott die Vielfalt liebt – wie wir an seiner Schöpfung täglich studierenen und erfahren können – deshalb dürfen wir uns nicht wundern, dass Menschen bis heute vielfältige Gemeindeformen hervorgebracht haben. Andererseits betet Jesus für die Einheit seiner Gemeinde, daher ist unser Auftrag, bei aller vorgefundenen Vielfalt Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu suchen und zu leben.