Bildung

Einleitung

Das Deutsche kennt mit den Begriffen Bildung und Erziehung zwei Begriffe, die so im internationalen Raum selten unterschieden werden.[1] Der Begriff besitzt eine lange Tradition, im engeren pädagogischen Sinne wird er insbesondere seit dem 19. Jh. intensiv behandelt. Herausragend ist hier vermutlich Wilhelm von Humboldt, der nach seiner Forderung der Allgemeinbildung auch das Selbstbild der Deutschen anregte, man sah sich als das klassische Bildungsland, viele bezeichnen die Deutschen als Land der Dichter und Denker

Als Dichter zeigen sie den besonderen Aspekt der kulturellen Bildung (Goethe, Schiller usw.), als Denker den der wissenschaftlichen Erfolge der deutschen Geistes- und Naturwissenschaftler sowie der Techniker seit dem 19. Jh., die die lange Zeit führende Stellung deutscher Industrieprodukte (Chemie, Stahl, Maschinen, Elektro, Auto) garantiert hat.[2]

Aufgekommen ist der Begriff in der Wende vom 18. zum 19. Jh. zwischen Aufklärung und Klassik und ist verbunden mit den großen Namen der eben genannten „Dichter und Denker“: Diesterweg, Fichte, Fröbel, Goethe, Herbart, Herder, Humboldt, Kant, Lessing, Pestalozzi, Schiller, Schleiermacher und Wieland usw. Damals entwickelt sich die bürgerliche Gesellschaft und führt die Moderne herbei, dabei spielt die Frage nach der Bildung eine zentrale Rolle. 

Wenig beachtet wird dabei, dass der Begriff „Bildung“ eigentlich christlichen Ursprungs ist. Der Mystiker Meister Eckhart(1260-1328) gebraucht die Begriffe „Bild“ und „bilden“, weil der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist (1. Mose 1,26 f.). Im dritten Teil kommen wir noch einmal auf diese christliche Tradition zurück.

Gegenwärtig steht der Begriff Bildung unter dem Aspekt des drohenden Fachkräftemangels in der Tagespresse. Dies geschieht seit 1965 fast regelmäßig, damals hat man das Schlagwort vom „Bildungsnotstand“ in die Runde geworfen, weil die Wirtschaft befürchtete, dass nicht genug gut ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, um Deutschlands Zukunft zu sichern. Heute haben wir Ähnliches mit dem PISA-Schock erlebt, der Deutschland im internationalen Vergleich der Basiskompetenzen von Schüler(inne)n eher schlecht zeigt und damit das Land der Dichter und Denker brüskiert hat. 

1997 hat Roman Herzog seine Rede zum „Aufbruch in der Bildungspolitik“ gehalten, in der er die politische und ökonomische Bedeutung von Bildung betont hat. Johannes Rauh ist 2001 dann in einer Welt des Wandels für „Orientierung und Urteilsfähigkeit“ eingetreten, damit man entscheiden kann, welches Wissen wir heute einsetzen können und müssen; ausdrücklich forderte er „mehr innere Substanz, mehr Erfahrung und mehr Kenntnisse“ als man im gegenwärtigen Alltag benötigt, um sich künftig gestaltend zu behaupten. Gegenwärtig wird die Debatte wieder um ausreichend gebildete Fachleute wieder geführt, oft vermischt mit einer Einwanderungsdebatte.[3]

Gleichzeitig stellen sich heute Fragen nach den Inhalten von Bildung, die an den Schulen vermittelt werden sollen. Klassisch steht hier die möglichst umfassende „Allgemeinbildung“ (Wilhelm von Humboldt!) im Zentrum, auf der dann die Fachausbildung aufbauen soll, wobei in Hinblick auf berufliche Leistungen immer wieder die stärkere Vorbereitung auf die Berufswelt gefordert wird. Wie ein roter Faden zieht sich bei der Bildung eine dreifache Bestimmung durch die pädagogische Debatte: die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur Welt.

Bedeutung von Bildung im pädagogischen Diskurs

So zentral der Bildungsbegriff in den aktuellen Debatten in Deutschland erscheint, so unklar erweist sich sein Inhalt in der wissenschaftlichen Literatur.[4] Bemüht man sich gegenwärtig um eine Beschreibung des Begriffs, so stößt man sowohl alltagssprachlich als auch erziehungswissenschaftlich auf verschiedene Dimensionen des Bildungsbegriffs, die hier kurz aufgezeigt werden. 

Zunächst gilt Bildung oft als etwas, das man erwerben und besitzen kann[5]: Ein gebildeter Mensch kennt sich in verschiedenen Gebieten aus, weiß sich in Szene zu setzen durch Hinweise auf sein kulturelles Wissen (Musik, Malerei, bildende Kunst, Philosophie, Sprachen, Umgangsformen) oder sein Weltwissen (Geografie, Geschichte, Naturwissenschaft und Technik). Hier klingt noch immer die Leitvorstellung des Bildungsbürgertums durch, das seit dem Ende des 18. Jh. seinen gesellschaftlichen Siegeszug in Deutschland angetreten und die Funktionsstellen der Macht in Politik und Wirtschaft besetzt hat. 

Ein moderner Klassiker für diese Verwendung stellt Dietrich Schwanitz’ Bestseller „Bildung. Alles was man wissen muss“ (1999) dar. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs ist allerdings heute sehr umstritten, was einen Gebildeten eigentlich ausmacht und was man daher wissen muss. In den Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen liegen die Gegenstandsbereiche des Unterrichts dagegen fest und spiegeln offenbar den klassischen Bildungskanon der Allgemeinbildung wider. In den beruflichen Schulen ist die Praxisorientierung das große Ziel, Allgemeinbildung reduziert sich auf Deutsch und Mathematik. 

Wer etwa eine gemeindepädagogische Ausbildung durchlaufen hat, nimmt zwar einen Bildungsbesitz mit (der den meisten in Prüfungssituationen klein vorkommt, in der Praxis dann aber plötzlich groß und brauchbar ist), aber wichtiger als die „reinen Fakten“ ist die Befähigung zum Weiterlernen. 

Entscheidend im Leben ist nämlich die Fähigkeit, sich neuen Herausforderungen zu stellen und nicht nur aus Routine und Gewohnheit zu handeln. Lernen kann man dies vielleicht nur indirekt, wenn man erkennt, dass ein fruchtbarer Moment des Lernens nur bedingt gemacht werden kann: Sowohl eine Erkenntnis im allgemeinen als auch im Glauben ist zuletzt unverfügbar und bleibt lebenslang ein wenig Geheimnis.

Dann versteht man alltagssprachlich unter Bildung zweitens das Wissen, das man unter Anleitung etwa in der Schule lernen kann und das man durch Bildungsabschlüsse (Zeugnisse, Diplome, Titel) bestätigt bekommt. Schon Seneca merkte dazu kritisch an: Non vitae, sed scholae discimus – „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“. Während manche Erziehungswissenschaftler diese institutionelle Ausrichtung betonen, greift diese Sicht für andere zu kurz, die lieber den ganzen Lebenslauf als Bildungsprozess in den Blick nehmen wollen. Bildung meint bei ihnen also auch die Lebensbegleitung, die zu einem erfüllten und wachen Leben führt.[6] Bildung ist nicht auf die Schulzeit begrenzt. Sie geht unerbittlich weiter bis ans Lebensende.

Drittens bezeichnet Bildung aber auch eine aufgeklärt reflexive Fähigkeit, eine Kultur der Reflexionsfähigkeit, die über das reine Wissen hinausgeht und sich nicht in Kompetenzen erschöpft. Wissenschaftlich gesehen geht es in der Bildung um das „Weltwissen“ in Verbindung mit individueller Entwicklung, die über die institutionelle Lehr-Lern-Prozesse hinausgehen. Bildung meint insofern den „relationalen Prozess der Selbsthervorbringung durch Weltauseinandersetzung und -veränderung“ (Ricken 2009, S. 22). Der Mensch lernt aus den Herausforderungen des Lebens, ist Teil eines umfassenden Systems, in dem er seinen Platz finden und gestalten muss. Die pädagogischen Klassiker wollten alle menschlichen Kräfte entfaltet wissen (Humboldt) bzw. Kopf, Herz und Hand bilden (Pestalozzi). 

Die Reflexionsfähigkeit gehört zu den durchziehenden Kompetenzen, Darüber hinaus mühen geht es um eine Förderung möglichst vieler Gaben und Kräfte, dabei muss man wissen, dass Schule nur einen Teil leistet, während die gelebte Gemeinschaft hier einen großen Anteil hat.[7]

Viertens wird damit der Prozess der geistigen Menschwerdung beschrieben oder der „Selbstransformation durch Weltauseinandersetzung“ (Ricken), die stetig Neues aufnimmt und zur Kultur lebenslangen Lernens wird. Der Lernende lernt dabei nicht nur etwas über etwas, sondern zugleich immer auch etwas über sich selbst. Man eignet sich also nicht nur Kompetenzen an, die einen zu etwas befähigen, sondern man verändert bzw. bildet sich dabei jeweils selbst. 

Individualität und Gemeinschaftlichkeit sind dabei eine wichtige polare Zuordnung im pädagogischen Prozess. Durch sollte die Selbstransformation gefördert werden, das geschieht durch all die praktischen Erfahrungen des Lebens in Wohngemeinschaften, in alltäglichen Begegnungen und in der Arbeit. Wir bewundern Menschen wegen ihrer Stärken, lieben sie aber wegen ihrer Schwächen.

Hieraus entsteht fünftens die Vorstellung einer „Selbstverwirklichung des Menschen in Freiheit“ (Pleinen), die auch als selbstreflexives Geschehen des „Sich-Bildens“ (Hentig) oder Prozess der Selbstformung (Taylor) und der Selbstbefreiung beschrieben wird. Hier kommt die alte Vorstellung der klassischen Bildungstheorie, die (im Anschluss an Kant) vernünftige Selbstbestimmung fordert, zum Zuge; Schlagworte sind daher neben Freiheit auch Mündigkeit, Emanzipation, Autonomie oder Selbstbestimmung. Der Mensch ist einerseits bildsam, er ist dabei andererseits nicht festgelegt, sondern kann sich in ganz unterschiedlichen Dimensionen ausbilden, im Bildungsprozess bringt sich der einzelne hervor. Bildung wird also mit der Zunahme von Freiheitsrechten verbunden, die der einzelne hat und die der Lehrer oder Mentor beachten und respektieren muss. 

Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen. Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist.

Schließlich listet Ricken sechstens noch die moralisch-praktische Haltung auf, die Achtsamkeit gegenüber anderen. Von jeher zielt Bildung auf Humanität und Menschlichkeit, beides schränkt die Selbstbestimmung ein oder richtet sie auf den anderen aus. Insofern Bildung für alle ermöglicht werden soll, antwortet die Pädagogik gleichsam selber auf diese Herausforderung und bemüht sich, den reinen Egoismus zu überwinden. 

Ricken zeigt in einem zweiten Überblick die Verwendung des Bildungsbegriffs in der Erziehungswissenschaft und führt damit in die heutige Problemlage ein. Dabei stellt er erstens die Aufstellung von Bildungsstandards heraus, also der Normierung des Bildungsinhalts (Messbarkeit, Validität), die die Gefahr einer Engführung von Bildung beinhalte und weite Teile der Persönlichkeitsentwicklung nicht mehr verfolge. Namentlich für die Besetzung von Fachkräftestellen in Deutschland und die Anerkennung internationaler Abschlüsse kommen hier wichtige Aufgaben auf uns zu.[8] Aber auch die Frage nach den grundlegenden Elementen einer „Allgemeinbildung“ muss beantwortet werden. 

Bei aller Vorsicht sollte man sich doch auf epochaltypische Schlüsselprobleme konzentrieren, an denen der Bildungsprozess sich verdichtet. Als gegenwärtig und wohl auch zukünftig immer noch zentrale Themen dürften die Fragen nach dem Frieden, der Umwelt, der sozialen Ungleichheit (Schichten, Geschlechter, nationale Herkunft, Armut und Reichtum), der komplexen Kommunikationsindustrie und schließlich dem Miteinander der Geschlechter weiter wichtig sein[9]

Ein zweites Problem liegt in der Fokussierung auf die individuelle Selbst-Welt-Verhältnisse, die die Beziehung zu anderen zu wenig beachtet und zu sehr von der Autonomie des einzelnen ausgeht. Hier fordert Ricken ein relationales Denken, das zugleich die Selbstverwirklichung beachtet. Ausgangspunkt wird dabei sicher auch die „Selbständigkeit im Denken“ (Theodor Ballauf) sein, hier geht es nicht um unabhängiges selbstständiges Denken, das nur die Selbstsicherung und Selbstverwirklichung im Blick hat. Vielmehr geht es darum, sich in selbstloser Verantwortung der Wahrheit vom Denken leiten zu lassen, statt darüber zu verfügen.[10] In diesem Zusammenhang kann man auch die Pädagogik der doppelten Kommunikation (Klaus Schaller) erwähnen, in der das Ineinander von individueller Verbesserung und Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse beachtet wird. Bildung wird darüber hinaus als offene Identität (Klaus Mollenhauer) begreifen, die die prinzipiell labile Differenz zwischen Selbstbild und Fremdbild wahrnimmt. Bildung ist insofern das Bewusstsein davon, dass Identität nur eine Fiktion ist. 

Drittens geht es um das Verhältnis von Wissen und Macht, denn Bildung ist selbst ein Teil von Macht, Bildungsfragen bleiben Machtfragen (Heydorn 1979), es ist daher das Bestreben vieler Pädagogen diese Macht zu überwinden. Hier ist die neuhumanistische Bildungselite letztlich gescheitert, insofern die Forderung nach allgemeiner Menschenbildung zu einem gesellschaftlichen Privileg geworden ist, von dem zunächst breite Schichten der Bevölkerung ausgeschlossen worden sind.[11]

Dass Wissen Macht bedeutet, müssen auch wir reflektieren und uns fragen, wie wir mit dieser Macht umgehen. Hier scheint uns die christliche Tradition mehr als hilfreich, zeigen uns die Evangelien doch Jesus nicht nur als Lehrer, der alles weiß und alles lehrt, sondern der sich selbst als Diener versteht und alle Grenzen des Wissen einreißt, indem er sich allen als Weg, Wahrheit und Leben anbietet. Seinen Nachfolgern (im griechischen Original werden die „Jünger“ mit einem Begriff bezeichnet, der üblicherweise für „Schüler“ oder „Studierende“ verwendet wird) macht er das bei der Fußwaschung (Joh 13!) vor und hält sie dazu an, selbst so anderen zu begegnen. Vielleicht darf man aber auch mit Klafki sagen, „Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen“, sie werden von Menschen für Menschen entworfen und verantwortet. Hier haben Christen ihre Vorstellungen von Macht und Dienen in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen.

Schließlich müsse nach Ricken daher viertens der Zusammenhang von Bildung und Kritik analysiert werden. Hier hat Dietrich Benner intensive Studien vorgelegt, in denen er sowohl konstitutive Prinzipien (Selbsttätigkeit, Bildsamkeit zu Freiheit, Sprache und Geschichtlichkeit) als auch regulative Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns (pädagogische statt gesellschaftliche Determination, „nicht-hierarchischer Ordnungszusammenhang der menschlichen Gesamtpraxis“[12]) beschreibt. 

Kritik fasst er dabei klassisch als die Fähigkeit zur Unterscheidung. Hier bieten uns die biblischen Schriften die Grundlagen für eine kritische Haltung zu uns selber und zu der Gesellschaft, in der wir leben. Aus meiner Sicht würde die Rückbindung des Menschen über die Verhältnisse dieser Welt hinaus auch für eine grundlegende Kritik der Gesellschaft wie der Bildung herhalten können. Aus diesem Grunde gehört eine religiöse Bildung zu den grundlegenden Bildungsinhalten. Allerdings dürfte die Verständigung über die konkrete Religion im modernen Diskurs eher schwierig sein.

Religiöse Bildung?

Die zentrale Lage vieler Kirchengebäude in unserer Gesellschaft entspricht ja schon lange nicht mehr der Rolle der Kirchen im pluralen Dialog der Moderne, entsprechend wird der Religionsunterricht vom Fach Ethik verdrängt und oft nur noch durch Staatskirchenverträge geschützt. Das sollte kein Trost sein. 

Auch der Konfirmandenunterricht gerät unter Druck, die Ganztagsschule scheint den kirchlichen Unterricht wie die gemeindlichen Angebote für Kinder und Jugendliche auf die Wochenenden zu verdrängen. Wie bringen wir das Religiöse wieder zur Sprache? Welche Rolle spielt Religion für die Allgemeinbildung? 

Ein falscher Weg wäre, sich in der aufklärerischen Tradition auf die Werteorientierung und die Moralvermittlung zurückzuziehen. Dieser Raum wird der Religion ja auch in den Schulen zugebilligt, deshalb wird den Religionsgemeinschaften ja Einfluss auf den Religionsunterricht eingeräumt.

Im wissenschaftlichen Diskurs der Pädagogen (etwa Ricken) spielt religiöse Bildung nur eine Nebenrolle, vielleicht würde man sie im Bereich Persönlichkeitsentwicklung einordnen, denn viele halten Religion heute ja für eine Privatsache. Vielleicht spielt religiöse Bildung in der Moderne namentlich für die individuelle Begründung des relationalen Denkens eine Rolle, (christliche) Nächstenliebe wäre zumindest vielen noch als Bildungsgut vermittelbar. 

Die drei eingangs genannten Beziehungsbereiche des Menschen zu sich selbst, zum Mitmenschen und zur Welt spielen im pädagogischen Diskurs tatsächlich die erwartete Rolle. Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis werden ausführlich thematisiert. 

Wo bleibt denn eigentlich die religiöse Bildung? Im Vergleich zu vielen anderen Ländern zeichnet sich das deutsche Schulwesen durch seinen hohen Verstaatlichungsgrad aus. Seit dem 19. Jh. wird die Kirche aus dem Schulwesen herausgelöst, zunächst führt sie noch die Schulaufsicht im staatlichen Auftrag aus und wird so an der staatlichen Machtausübung beteiligt. Seit dem Ende des 19. Jh. wird sie durch staatliche Behörden abgelöst. Vollendet wird der Verstaatlichungsprozess in der nationalsozialistischen Herrschaft, die kirchliche Ansprüche generell und besonders im Erziehungswesen beseitigt hat, was sich auch nach dem Krieg kaum geändert hat. 

Einzig im Religionsunterricht bleiben die Kirchen als Religionsgemeinschaft mitverantwortlich. Offenbar wird der Religion in Fragen der Wertevermittlung und Wertestabilisierung auch im demokratischen Staat eine grundlegende Kompetenz zugestanden. Damit einher geht ganz offenbar eine Säkularisierung der Erziehungswissenschaft, die seltsam bewusst die christlich-kirchlichen Ursprünge ausklammert.

Wie eingangs versprochen, kommen wir noch einmal auf Meister Eckhart und seinen Bildungsbegriff zurück, den er zunächst der Schöpfungsgeschichte entnommen hat (1. Mose 1,27 f.). Der Mensch bildet etwas ab, das Gott in ihn hineingelegt hat. In seiner mystischen Erfahrung verbindet Meister Eckhart diese Charakterisierung mit 2. Kor 3,18, wo Paulus davon schreibt: „Wir alle aber schauen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn an und werden so verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht.“ Geht es also zum Einen um Entfaltung dessen, das Gott bei der Schöpfung in die Menschen gelegt hat, so geht es zum Anderen um die Verwandlung in das Bild Christi, was sich der mittelalterliche Mystiker als einen spirituellen Prozess vorstellt. 

Von der Pädagogik her gesehen könnte man das zunächst so verstehen, dass es darum geht, Christus nachzuahmen (Lernen am Modell) oder sich in seinem Verhalten nach ihm auszurichten. In Gestalt des Doppelgebotes der Liebe wären die Menschen dann an die Beziehung zu Gott und zu den Nächsten gewiesen. Statt der Beziehungen zur Welt steht hier die Beziehung zu Gott. Zu überlegen wäre, ob sich mit der Beziehung zu Gott eine vierte Dimension ergibt oder ob Gott quasi zur Welt gehört. Zwar hat Kant Gott gleichsam ins Jenseits verlagert, aber die biblischen Berichte bezeugen ja immer wieder die Begegnung mit ihm im Alltag der Menschen. Theologisch gesprochen aktualisiert sich unsere Ebenbildlichkeit ja gerade in der ständigen Beziehung zu ihm, wie man am Beispiel Jesu in allen Evangelien studieren kann. Nachfolge bedeutet hier, in dieses Gespräch mit Gott einzutreten, seine Anwesenheit zu glauben und weiter zu geben. Dabei dreht sich nicht etwa alles um den einzelnen, sondern um sein Verhältnis zum anderen. Jesus sagt von sich, er sei als Diener gekommen, der sich nicht bedienen lässt, sondern den anderen dient. 

Das zeichnet die Pädagogik von Jan Amos Komensky (1592-1670) aus, dessen pädagogische Vision lautet „ut omnes omnia omnino doceantur“ – allen alles auf jede Weise zu lehren. Alle sollen etwas können, und zwar exemplarisch. Immer geht es ihm um das Ganze, letztlich soll Gott in allem erkannt werden, da er in allem erkennbar sei. Jedes einzelne Ding soll durchsichtig gemacht werden, so dass es auf seinen Sinn und damit letztlich auf Gott hinweist. Man würde so seine Spuren überall entdecken und seine Gegenwart überall erwarten. Das vermittelt natürlich Geborgenheit und Sicherheit, weil Gott sich um uns sorgt. Das weist aber auch auf den anderen und seine Hilfsbedürftigkeit hin, mit dessen Befinden sich Gott (Mt 25) identifiziert.


[1] Wenn das Englische etwa von education spricht, sind hier Bildung und Erziehung gemeint, mit cultivation wird der Aspekt der Bildung (neben dem der Bodenbearbeitung wie im Deutschen kultivieren) angesprochen; an der Universität gibt es dann noch die Higher Education. Ähnlich ist es mit dem französischen éducation oder italienischem educazione. Im Spanischen gibt es allerdings mit conformación einen Begriff, der neben Bildungauch für Konfirmation stehen kann und formación, das viele Aspekte von Lernen (neben Bildung auch Ausbildung, Anlernzeit, Schulung und Training) beschreibt.

[2] Für die politischen Denker kann diese Führung eher weniger in Anspruch genommen werden, hier scheint die klassische Bildung nicht sehr ausgereift gewesen zu sein, wie sich angesichts von zwei angezettelten und verlorenen Weltkriegen und dem mit letzterem verbundenen Mord an den Juden verheerend gezeigt hat.

[3] Allerdings zeichnet sich ab, dass Deutschland für die gesuchten internationalen Fachkräfte nicht attraktiv genug ist (Sprache, Verdienst). Dabei erscheint die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen nicht selten ein Problem, vielen Ingenieurinnen aus Osteuropa bleibt in Deutschland nichts anderes übrig, als sich als Reinigungskraft den Unterhalt zu verdienen.

[4] Vgl. den Überblick bei Ricken 2007: Das Ende der Bildung als Anfang. Anmerkungen zum Streit um Bildung, in: Christian Palentien / Marius Topor / Carsten Rohlfs (Hg.): Perspektiven der Bildung: Kinder und Jugendliche in formellen, nonformellen und informellen Bildungsprozessen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 15-41.- Einführend sehr gut: Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2009: Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt: WBG; klassisch: Wolfgang Klafki 2007: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim: Beltz

[5] Ricken 2007 hat die moderne Debatte zusammengefasst und wir nehmen seinen Faden auf.

[6] Die Frage der Bildungsabschlüsse erregt die Bildungsreformer seit langem, während die Zahl der Mädchen in der gymnasialen Oberstufe von 36 % (1960) auf 56 % (2000) angestiegen ist, sind die Bildungsabschlüsse insgesamt alarmierend: mit Abitur schließen 2000 im Schnitt 25 % eines Jahrgangs (in Bayern 19,6 in Brandenburg 30,8) ab, mit Fachhochschulreife 10, knapp 50 % erreichen die mittlere Reife, 31 % den Hauptschulabschluss, 10 % erreichen diesen aber nicht! (Dörpinghaus u.a.2009 S. 29)

[7] Klafki 2007, S. 30 ff., hat hier insbesondere die selbstbestimmte moralische Verantwortlichkeit neben den verschiedenen Dimensionen des Erkennens und der Ästhetik betont.

[8] Angesichts der allgemeinen Zunahme des Wissens muss man die Frage stellen, welche Inhalte wirklich zu einer Allgemeinbildung gehören und welche nicht. So fehlt an den allgemeinbildenden Schulen in aller Regel die soziale Kompetenz, die zwar in der Mittelstufe in den Kopfnoten bewertet, aber die nicht durch ein gesondertes Fach vermittelt wird. Angesichts grundlegender zwischenmenschlicher Konflikte in unserer Gesellschaft und einem überall beklagten Ausfall von sozialer Kompetenz spielen diese Fragen (interessanterweise spricht man normalerweise nicht von „sozialer Bildung“!) im Fächerkanon der Schulen keine Rolle. Dafür vermittelt man etwa in den Naturwissenschaften zum Teil Stoffe, die früher ein entsprechendes Studium beinhaltet haben. Dringend erscheint daher, das grundlegende Wissen, was man wirklich braucht, zu ermitteln und die Lehrpläne von anderen Inhalten zu entlasten. Angesichts der verkürzten Gymnasialzeit wäre eine solche Reduzierung längst am Platz gewesen, aber wie in anderen Bereichen auch fehlt hier der politische Wille zum Handeln. Bildung beschreibt also, was und wozu jemand etwas lernt.

[9] Dazu ausführlich Klafki 2007, zusammengefasst bei Doepinghaus u.a. 2009 S. 117 f.

[10] Theodor Ballauf 2004: Pädagogik als Bildungslehre. Baltmannsweiler

[11] Begründet ist dieses Scheitern im übergroßen Optimismus der Epoche, hat man doch aus den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt überschätzt und erst nach dem 1. Weltkrieg dessen Scheitern bemerkt und sich davon distanziert. Früh hat sich das Bildungsbürgertum mit dem Wirtschaftsbürgertum verheiratet, das so günstig an eine Vision über sich selbst gekommen ist. Der Bürger ist ein gebildeter, kultivierter Mensch, der durch seine Bildung die Macht in Staat und wirtschaft organisiert. So haben sich Macht und Wissen verbunden und verbündet. Das Schlagwort „Bildung ist Macht“ hat hier seinen Ursprung und inspiriert seit Mitte des 19. Jh. die Arbeiterbildungsbewegung. In den 1960er Jahren setzen sich Pädagogen und Politiker dafür ein, über Bildung den unteren Schichten einen Zugang zur Macht zu ermöglichen. Bildung wird so zu einem umkämpften Begriff in der Tagespolitik, der Forderungen nach einer Teilhabe an Bildung aufstellt. Anfang der 1970er Jahre beginnt eine Bildungsreform, 1970 entsteht ein „Strukturplan für das Bildungswesen“, der aus der Menschenwürde und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (GG Artikel 1 und 2) ein Grundrecht auf Bildung ableitet und eine umfassende Bildung für alle fordert. 1971 sollen Kinder aus Familien mit schwächeren Einkommen durch das BAFöG finanziell gefördert werden. Damals entsteht eine Fülle neuer Bildungsangebote nicht nur für die schulische und berufliche Bildung, auch Kirchen und Gewerkschaften entwickeln ihre Bildungsprogramme, so ist auch das mbs 1971 entstanden.

[12] Benner 2001: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 4. Aufl. Weinheim, München S.128