Welt im Aufbruch

Paradigmenwechsel

Während das Mittelalter durch seine gewaltige Dauer von rund 1.000 Jahren nur wenige Veränderungen aufzuweisen scheint, lässt sich die Neuzeit geradezu als Epoche des Wandels und des Umbruchs beschreiben. Ein Paradigmenwechsel läutet das neue Zeitalter ein: Die Menschen lösen sich aus dem mittelalterlichen Weltbild, in dem sich alles um die Kirche und den Himmel dreht und wenden sich der Welt zu: So beginnt Europa seit dem 15. Jh. seinen Aufbruch in die Welt.

Über annähernd 1000 Jahre ist ein neuer Kulturraum herangewachsen, der auf den Traditionen der Antike gründet und über Jahrhunderte von der Kirche vermittelt und verantwortet wird. Beinahe plötzlich stellt man die Kirche als Übermittlerin von Wissen infrage, man begegnet ihren  Überlieferungen zunehmend mit Misstrauen, stellt neu Fragen nach Wahrheit und Gewissheit. Dazu  tragen auch sichtbare Verfallserscheinungen der Kirche bei, die in einer Glaubwürdigkeitskrise geraten ist.

Ablasshandel – der Papst verkauft Ablass gegen Geld!

Der Lebensstil von Mönchen, Nonnen, Priestern und Bischöfen erscheint unglaubwürdig: Sexuelle Verfehlungen, Leben auf Kosten der Armen in Saus und Braus werden kritisiert. Die Geldgier der Kirche wird gebrandmarkt. Ein enormer Antiklerikalismus wird fassbar: Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen werden heimlich beschimpft, später dann öffentlich dem Spott preisgegeben.

Mit dem aufkommenden Buchdruck erscheinen Flugschriften, die mit den verschiedensten literarischen Mitteln wie Satiren, Spottgedichten, Dialogen oder Schmähschriften den Antiklerikalismus aufgreifen, populär machen und immer neue Autoren zum Schreiben bringen. An verschiedenen Orten kommt es zu Bilderstürmen, Predigten werden gestört, Geistliche auf offener Straße bedroht.

Aber es kommt auch zu religiösen Aufbrüchen, wie wir es später bei Martin Luder beobachten können: Er sucht intensiv nach Gott, tritt in ein Kloster ein, studiert die Bibel und macht eine theologische Entdeckung, die die Welt verändert.

Aufstieg der Bürger

Schon seit dem späten Mittelalter treten die Stadtbewohner („Bürger“) neben Bauern, Adlige und Geistliche. Das Leben in der Stadt ermöglicht vielen einen sozialen Aufstieg. Sie leben dort als Handwerker oder Kaufleute, besonders letztere bestimmen die Geschicke einer Stadt.

Manche Bürger wie die Fugger in Augsburg erwerben riesige Vermögen mit Internationalen Handelsgeschäften, Bergbau, Metallverarbeitung usw. Durch den Aufschwung in Bergbau & Metallverarbeitung („Montangewerbe“) gelingt manchen ein bescheidener Aufstieg. Hans Luder, der als ältester Sohn eines Bauern nicht erbberechtigt ist, zieht in das aufstrebende Industriegebiet nach Mansfeld, wo er sich vom einfachen Bergmann zum Besitzer eines kleinen Bergwerks emporarbeitet. Seinem Sohn Martin kann er eine solide Schulbildung zukommen lassen und ihm sogar ein Studium ermöglichen. Das erinnert an eine moderne Karriere.

Daneben steigen viele im Dienst der Kirche auf: ein Bürgerlicher kann Abt eines Klosters werden. Martin Luder, Sohn eines erfolgreichen Bergmannes, geht zur Schule, beginnt ein Studium und wird – nach seinem Eintritt in ein Kloster – Theologieprofessor, als solcher erhält er enormen Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung seiner Zeit.

Humanismus: Neue Fragen, neue Antworten

Ein ganz neuartiges kritisches Denken wird spürbar. Wahrheit und Orientierung sucht man nicht mehr in den Überlieferungen der Kirche, man stellt selber Beobachtungen an und vergleicht diese mit dem von der Kirche überliefertem Wissen. In Italien studieren Gelehrte die Hinterlassenschaften der Antike, gehen ganz bewusst hinter die 1.000 Jahre der Kirchenherrschaft zurück, nennen diese Zeit bald abwertend „Mittelalter“. Nicht mehr die christlichen Traditionen geben Antworten auf ihre Fragen, sondern in Italien wenden sich die Gelehrten den Philosophen der vor-christlichen Antike zu: das mittelalterliche Weltbild soll durch einen Rückgriff auf die Antike überwunden werden, daher versteht man die eigene Zeit als eine neue Zeit, später spricht man von der Epoche der „Renaissance“, der Wiedergeburt der Antike.

Leonardo_Mensch

Die fortschrittlichen Kräfte Italiens entwickeln eine neue Leitkultur: Nicht mehr das biblische Menschenbild, in dem der Mensch Sünder ist und der Rettung durch Christus bedarf, bestimmt die Gelehrten, sondern das antike Menschenbild der Griechen wird zum Leitbild der neuen Zeit: Der Mensch ist gut, was ihm fehlt ist Bildung! Dieser Modernisierungsprozess erfasst anfangs nur die kleine gebildete Elite, der aber viele folgen. Das Christentum erleidet einen Bedeutungsverlust, der in den nächsten Jahrhunderten stetig steigen wird.

Seit langem fordert man ein Reformkonzil – aber die Päpste zur Zeit der Renaissance haben daran kaum Interesse, sie haben sich allen Freuden des Diesseits zugewendet und genießen ihr Leben in vollen Zügen. Sie scheinen mit ihrer Weltzuwendung sehr moderne Menschen! Ungewollt leisten auch sie der Säkularisierung Vorschub.

Die Menschen möchten mehr über die Welt erfahren und sie erkunden. Man begeistert sich nun für den Menschen, fragt nach seinem Wesen und seiner Würde; manche Gelehrte bezeichnen sich als Humanisten. Künstler studieren antike Kunstwerke, der Mensch selber rückt immer mehr ins Zentrum des Denkens und Schaffens. Die Künstler schauen ihre Welt genauer an, sie nehmen die Welt anders wahr! Die gemalten Portraits weisen nun individuelle Züge auf, man achtet auf richtige Proportionen: Erscheint das Jesuskind auf einem mittelalterlichen Gemälde wie ein kleiner Erwachsener, so malt der neuzeitliche Maler es mit typisch kindlichen Proportionen. Bald leben Maler davon, Portraits von Menschen zu malen, die einen solchen Auftrag bezahlen können.

Albrecht Dürer: Selbstbildnis

Die Künstler entwickeln einen Sinn für die Perspektiven einer Landschaft. Während der mittelalterliche Künstler einen Bedeutungsmaßstab benutzt, nach dem er etwa das Jesuskind in der Krippe größer als die in seiner Nähe stehenden Hirten malt, hat der neuzeitliche Maler ein Gespür für die Perspektiven in einem Bild: Entfernte Gebäude oder Menschen sind kleiner als solche im Vordergrund. Die Menschen schauen sich offenbar ihre Umgebung genauer an, sie empfinden eine große Leidenschaft dafür, das Gesehene künstlerisch festzuhalten. So bricht mit einem Male eine neue Kunst-Produktion an. Viele Werke haben mit dem religiösen Leben zu tun, die Szenen werden jedoch in die eigene Welt hineingeholt: im Hintergrund zeigt sich nicht das Heilige Land, sondern europäische Landschaft, die Menschen tragen die Kleidung der eigenen Zeit.

Welterkundung

Aber der Mensch schaut sich seine Welt nicht nur genauer an. Er bricht auch auf, um sie zu erforschen. Im Mittelalter überschreiten nur wenige Europäer die europäischen Grenzen. Dazu zählt etwa Marco Polo, der im 13. Jh. bis nach China gekommen sein soll. Und dazu zählen auch die Kreuzritter, die im Hohen Mittelalter ins Heilige Land aufbrechen, um das Land für Jesus zu erobern. Während die Kreuzritter sich sozusagen zu den Wurzeln ihrer Kultur und Religion begeben, erkunden seit dem 15. Jahrhundert portugiesische Seefahrer die Küsten Afrikas.

Betrachten wir kurz in einer Rückblende die Zeit um 1400. Damals leben schätzungsweise 350 Mio. Menschen auf der Erde, bis 1800 steigt die Weltbevölkerung auf ca. 750 Mio. Menschen an; über 80 % sind und bleiben Bauern, die Lebensmittel produzieren. Die meisten Menschen gehören in eine der folgenden Kulturen: Europa, der Islamische Orient, Indien, Indochina, Indonesien, China, Korea, Japan, das Inkareich und die Azteken. Am dichtesten besiedelt sind damals China (25-40 %  der Weltbevölkerung), Indien (20 %) und Europa (25 %) – gemeinsam leben hier um 1400 70 %, um 1800 sind es dann 80 % aller Menschen.

Zwar leben die meisten Menschen auf dem Land, aber es gibt damals bereits große Städte. Ihre Zahl und Größe sagt uns etwas über den Wohlstand einer Gesellschaft. Von den 25 größten Städten um 1400 sind die meisten noch heute Großstädte, 9 davon liegen in China (einschl. der größten Stadt Nanking), die zweitgrößte liegt in Indien, die drittgrößte ist Kairo, erst die viertgrößte liegt mit Paris in Europa. Andere Großstädte sind damals Konstantinopel, Samarkand, Bagdad und Fez. Die meisten Städte liegen in Asien, dort sind Wohlstand und Reichtum also am größten. Kein Wunder, dass Asien für Europa anziehend wird und die Portugiesen den Seeweg nach Indien suchen!

Unter Heinrich dem Seefahrer (1394-1460) erkunden die portugiesischen Schiffsführer die afrikanischen Küsten, Diaz umsegelt das Kap der Guten Hoffnung (1487) und Vasco da Gama gelangt 1497/98 nach Indien.1492 entdeckt der Genuese Kolumbus im Auftrag Spaniens die „Neue Welt“. Magellan umsegelt schließlich 1519-22 die Erde und beweist damit, dass sie eine Kugel ist. Der Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes folgt eine neue Kartographie und eine neue Navigationskunst, schließlich erfolgt die „Mathematisierung“ der Welt! In der Begegnung mit den anderen Kulturen kommt ein Kulturtransfer in Gang, der in die Europäisierung der Erde mündet, z. T. wird er durch blutige Eroberungen begleitet.

China ist damals nicht nur reich, sondern auch die Weltmacht. Zwischen 1405 und 1433 sendet das Reich der Mitte siebenmal eine Flotte von 300 Schiffen mit 27.000 Matrosen nach Indien, Mozambique und an den Persischen Golf, um Flagge zu zeigen und den Handel zu fördern. Danach zieht sich das Land plötzlich wieder aus dem Indischen Ozean zurück. Der Handel läuft weiter. Erst am Ende des Jahrhunderts treten die Europäer mit einzelnen Schiffen auf den Plan. Um 1400 ist Asien also Europa weit überlegen, auch militärisch, verfügt China doch seit 1000 über Kanonen, Bomben, Raketen und Minen. Was wäre gewesen, wenn die chinesische Flotte noch am Ende des 15. Jh. im Indischen Ozean unterwegs gewesen wäre? Hätte Europas Geschichte einen anderen Verlauf genommen?

Europa wird ein Kontinent im Aufbruch und im Wandel. Auf dem Seeweg will man selber an die ersehnten orientalischen Handelsgüter herankommen, indem man die muslimischen Zwischenhändler umgeht und selbst ins Geschäft kommt. Der Handel mit den orientalischen Gewürzen ist ungeheuer einträglich. Obwohl von den über 600 portugiesischen Indienfahrern zwischen 1497 und 1572 nur 315 zurückkehren, sind die Gewinne ausreichend groß! Auf diese Weise wird das zu erwartende Geschäft zu einem Antrieb der modernen Welterkundung. Forscherdrang, Hoffnung auf Gewinn und bald auch Missionseifer gehen Hand in Hand. So wird die weite Welt außerhalb Europas entdeckt und ein Netzwerk von Handelsstützpunkten errichtet.