Luthers Theologie und die Kirche

Luthers theologisches Programm

An den christlichen Adel 1520

Seit 1520 entwickelt er von Schrift zu Schrift seine reformatorische Theologie, Luther wird immer populärer. In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520) sucht er den neuen Kaiser und den christlich geprägten Adel für Reformen in Kirche und Gesellschaft zu gewinnen. Da die Kirchenleiter sich verweigern, sollen die politisch Verantwortlichen handeln. Die mittelalterliche Überordnung der geistlichen Ämter über die weltliche Gewalt lehnt Luther ab, denn alle Getauften sind Priester und haben denselben Stand vor Gott, nur ihre Aufgabe als Geistliche (Predigt und Seelsorge) oder Adlige (Einsatz für die gesellschaftliche bzw. politische Ordnung und Frieden) ist eine andere. Damit wird Luther zum Wegbereiter der neuzeitlichen Emanzipation des Staates von der kirchlichen Vorherrschaft. Sehr detailliert macht Luther auch praktische Reformvorschläge für Kirche und Gesellschaft.

So zeichnet sich früh das Modell des Landeskirchentums ab: Um eine Revolution zu vermeiden, ruft Luther die politischen Führer zum Handeln auf, um die Kirche äußerlich zu reformieren. Dabei geht es Luther nicht um den Einsatz von Macht, hier äußert sich Luther wiederholt glaubwürdig anders. Das Gelingen der Reformation hängt Luthers Ansicht nach nicht mit Macht, sondern allein vom Segen Gottes ab. Würde er auf Gewalt und Macht setzen, so fürchtet er gerade den Beistand Gottes zu verlieren, aber dem Wittenberger Reformator geht es um die Rechtmäßigkeit des Vorgehens, er möchte seine Reform legal voranbringen und wendet sich deshalb an die weltliche Obrigkeit, die nach dem Zeugnis der Schrift von Gott in ihre Aufgaben eingesetzt ist. Zögernd übernehmen eine Reihe von Landesfürsten die neue Sicht und schließen sich der Reformation an.

In der zunächst lateinisch verfassten Schrift Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche (1520) wendet er sich der konkreten Reform von Theologie und Gemeindearbeit zu, insbesondere versteht er Sakramente und Gottesdienst neu. Er lässt nur Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten, die Vorstellung, der Gottesdienst sei ein gutes Werk und darin gehe es um das „Opfer Jesu“, hält er für besonders verwerflich.

Luther geht von der Rechtfertigung des Sünders aus. Er hat die Barmherzigkeit Gottes im Studium der Schrift neu entdeckt und bekommt so einen neuen Blick auf den einzelnen als Menschen und Christen, aber auch für Gottes Wirken durch den Heiligen Geist in der Schrift. Eine äußere Frömmigkeit als Mönch hat ihm persönlich nicht geholfen, und er öffnet diese Erfahrung für alle. Es ist daher nur konsequent, wenn er auch Reformen in Gottesdienst und Gemeinde fordert und fördert.

Luthers Übersetzung des NT, September 1522

Als Luther auf der Wartburg das Neue Testament übersetzt, ist er bereits in Acht und Bann. Nachdem er seine Übersetzung mit Melanchthon durchgesehen hat, wird sie in Wittenberg ohne Namensangabe im September 1522 gedruckt. Jeder weiß jedoch, wer dahinter steckt und bald wird diese Übersetzung zu einem Kassenschlager, der überall in Deutschland nachgedruckt wird. Er übersetzt auch das Alte Testament, das dauert aber bis 1534, als die erste Gesamtbibel erscheint, um dem Wort Gottes Raum zu geben. Damit steht allen die Heilige Schrift in der Volkssprache zur Verfügung. Direkte Auswirkungen hat diese Übertragung namentlich im Gottesdienst, die Bibel wird gehört, eher selten gelesen. Noch heute bemerkt man, wie gut sich der von Luther gestaltete Text zum lauten Vorlesen eignet (nur 5 % der Menschen können damals lesen!).

Für Übersetzungen in andere europäische Sprachen wird Luthers Arbeit zum Ansporn und zur Vorlage. Er hat nicht den griechischen und hebräischen Buchstaben im Blick, sondern das Volk, das diese Übersetzung hören und verstehen soll. Er schaut dem Volk auf’s Maul, benutzt also die Sprache der Menschen auf der Straße, so wird diese Übersetzung zum Erfolg und verdrängt alle vorhergehenden Übersetzungsversuche.

Entstehung der Evangelischen Landeskirchen

Gegenüber einer Kirche von unten hat Luther erhebliche Vorbehalte. Gegenüber den Zwickauer Propheten und den Täufern bleibt er distanziert: Als während seiner Abwesenheit spiritualistische Sendboten in Wittenberg auftauchen, die von sich behaupten, durch sie spräche der Heilige Geist, gewinnen sie die Unterstützung von Luthers Kollegen Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt) und verunsichern Philipp Melanchthon. Anstelle des geschriebenen Wortes setzen die Zwickauer auf den „Geist“ und fordern sofortige Reform der Gottesdienste und sittliche Reformen. Als Luther durch Briefe von diesen „Wittenberger Unruhen“ erfährt, kehrt er vor Ostern 1522 zurück und hält seine Invokavitpredigten: Wie man nur allmählich einem Kind festere Speisen gibt, so könne man auch die kirchlichen Reformen nur langsam durchführen. Einerseits ist er für eine Volkskirche und daher hält er am mittelalterlichen Parochialsystem fest, die „himmlischen Propheten“ hält er für Schwärmer und grenzt sich ab.

Bald setzt sich Luther für die Neuordnung des Gottesdienstes ein. Er verfasst dazu die Schrift: Von Ordnung des Gottesdiensts in der Gemeinde (1523) Darin schreibt er u. a.

Drei große Missbräuche sind in den Gottesdienst eingedrungen. Der erste: dass man Gottes Wort zum Schweigen gebracht und es lediglich gelesen und gesungen hat, das ist der ärgste Missbrauch. Der zweite: nachdem Gottes Wort zum Schweigen gebracht war, sind daneben so viel unchristliche Fabeln und Lügen hereingekommen, sowohl in Lesestücken, wie in Gesang und Predigt, dass es gräulich zu sehen ist. Der dritte: dass man solchen Gottesdienst als ein [gutes] Werk getan hat, damit Gottes Gnade und Seligkeit zu erwerben. Da ist der Glaube untergegangen… Luther Deutsch VI, S. 82-85

Die Gemeinde soll nur noch zusammenkommen, wenn Gottes Wort gepredigt und gebetet wird. Die täglichen Gottesdienste sollen morgens und abends stattfinden, als Teilnehmerkreis sieht Luther vor allem die Pfarrer und Schüler, um dort die Hl. Schrift zu lesen und sie auszulegen. Sonntags soll sich dann die ganze Gemeinde versammeln (Predigt, Abendmahl). Entscheidend sei, dass im Gottesdienst das Wort Gottes gelesen und ausgelegt werde: Und es ist nichts besser getrieben als das Wort (ebd.).

Auf die Erneuerung des Gottesdienstes folgt die Neuordnung der Gemeinden. Bereits 1523 verfasst Luther die Schrift Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein  und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift. Die Gemeinde soll die Lehre selber beurteilen, sie soll Lehrer und Seelsorger selber ein- oder absetzen (Joh 10,1ff.; 1.Thess 5,21; Matth 24,4f. u.a.). Wo keine Gemeinde ist, da ist jeder Christ zur Predigt des Evangeliums berufen; wo eine Gemeinde vorhanden ist, da soll sich keiner selbst hervortun, sondern sich berufen und hervorziehen lassen. Wo der Berufene allerdings falsch lehrt, da ist jeder Christ aufgefordert, dagegen aufzutreten und die Wahrheit zu lehren.

An verschiedenen Orten entstehen neue Gottesdienst-Ordnungen, schließlich veröffentlicht auch Luther einen eigenen Vorschlag:

Vor allen Dingen will ich sehr freundlich, auch um Gottes willen, alle diejenigen gebeten haben, die diese Ordnung im Gottesdienst sehen oder befolgen wollen, dass sie ja kein notwendiges Gesetz daraus machen noch jemandes Gewissen darein verstricken oder fangen, sondern sie gemäß der christlichen Freiheit nach ihrem Belieben gebrauchen, wie, wo wann und wie lange es die Umstände fügen und erfordern. Luther: Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts (1526) zit. nach Luther Deutsch VI, S. 86 ff.

Luther sieht seinen Vorschlag also keineswegs als verbindlich an, vielmehr kann er sich gut vorstellen, dass es verschiedene Ordnungen geben könne, denn es ist nicht meine Meinung, dass das ganze deutsche Land gerade unsere Wittenberger Ordnung annehmen müsste (ebd.). Vielmehr könnten die Gottesdienstformen in den unterschiedlichen Regionen durchaus verschieden sein und von den Gemeinden unterschiedlich geordnet werden.

Drei Formen des Gottesdienstes unterscheidet der Reformator. Als erstes nennt er die lateinische Messe, die um des Spracherwerbs der Jugend willen weiterhin gebraucht werden soll. Nur wenn die jungen Leute Fremdsprachen lernen und einüben, können sie  in fremden Ländern Christus zunutze sein und mit den Leuten reden. Luther denkt hier scheinbar an Ökumene und es klingt nach Mission. Als zweite Form möchte er einen volkssprachlichen Gottesdienst, damit die Menschen zum Glauben gerufen werden, hier hat er die Evangelisation im Blick. Schließlich beschreibt er noch eine dritte Weise des Gottesdienstes für diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen. Sie sollte sich in einem Haus versammeln zum Gebet und Bibellesen, ja selbst zum Taufen und um sich seelsorgerlich zu begleiten. Noch scheint es ihm, dass nicht viele nach solchen gottesdienstlichen Formen suchen. Daher bleibt diese Form unausgeführt. Bestimmend bleibt das volkskirchliche Modell eines verbindlichen Gottesdienstes, an dem alle teilzunehmen haben und der auf kirchliche Bildung ausgerichtet ist.

Die Ausführungen über Gottesdienst und Gemeinde zeigen die „Theorie“ Luthers vom Gemeindebau. Wie sieht es mit der Praxis aus? Nach den ersten stürmischen Jahren der Reformation nehmen die Dinge ihren Lauf. Immer mehr Fürsten und Städte wenden sich dem neuen Glauben zu und werden „evangelisch“.

Aber es tauchen Probleme auf. Da sich die traditionelle Kirche nicht verändert, wird allmählich der Aufbau einer neuen Kirchenorganisation dringlich. Wer soll künftig für die Pfarrer das Gehalt bezahlen? Wer soll die Amtsführung der Pastoren beaufsichtigen? Welche „Finanzen“ sollen eingesammelt werden? Da die Bischöfe aus ihren Bistümern vertrieben worden sind, liegt vieles im Argen. Seit Mitte der 1520er Jahre häufen sich Botschaften über schlimme Zustände in den Gemeinden.

Seit Anfang 1526 werden daher in Kursachsen erste Visitationsreisen (Besuchsreisen) durchgeführt. Weil die Bischöfe vertrieben worden sind, übernimmt der Kurfürst deren Aufgabe. Luther folgt dabei seiner Vision, wie er es in seiner Schrift An den christlichen Adel bereits 1520angedeutet hat.  Als „weltliche Obrigkeit“ scheint der Landesherr  Luther geeignet, die äußeren Angelegenheiten der Kirchen zu ordnen. Luthers Mitarbeiter Philipp Melanchthon verfasst dazu eine Instruktion (Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen, 1528).

Erstens sollen Lehre und Lebenswandel der Pfarrer, Prediger und Schulmeister geprüft werden, die altgläubigen Priester sind zu pensionieren und Irrlehrer des Landes zu verweisen. Zweitens müssen die kirchlichen Einkünfte festgestellt und die Besoldungsverhältnisse geordnet werden (dazu werden manchmal mehrere Pfarreien zusammengelegt), die Unterhaltung kirchlicher Gebäude und die Armenfürsorge aus dem „gemeinen Kasten“ ist zu regeln. Drittens soll die neue Gottesdienstordnung eingeführt werden. Außerdem sind Superintendenten bzw. Dekane einzusetzen.

Die Visitatoren befragen Männer aus der Gemeinde über „ihren“ Pastor; die Berichte sind zum Teil sehr ernüchternd. Viele Pfarrer sind evangelisch geworden, meist äußerlich daran erkennbar, dass sie geheiratet haben, bei manchen lässt der Lebenswandel zu wünschen. Viele Pfarrer hängen ihren Mantel nach dem Wind, viele erweisen sich als ungelehrt, manche halten am alten Glauben fest. Andere wiederum haben keine packende Verkündigung. Da Predigten vorher nicht notwendig zur Aufgabe eines Pfarrers gehört haben, ist dieser Bildungsmangel nicht ungewöhnlich. In der mittelalterlichen Kirche steht das Verwalten der Sakramente (Taufe, Austeilen des Abendmahls, Eheschließung, Beerdigung) im Zentrum des Pfarrdienstes. Nun soll im Mittelpunkt die Predigt stehen, viele Amtsinhaber sind damit überfordert.

Das Ergebnis der Visitationen in Kursachsen (1526 1530) zeigt: Die Gemeindeglieder scheinen von der Reformation eher ungerührt, keine Spur von Erweckung. Luther revidiert allerdings seine hohe Wertschätzung des Wortes Gottes in der Predigt nicht. Aber er entdeckt nun den Wert der Gemeindepädagogik: Den Menschen fehlt Lehre.

Entstehung der Gemeindepädagogik

Luther – 1529 (Cranach)

Daher schreibt er 1529 seine beiden Katechismen. Der kleine Katechismus soll für ein christliches Elementarwissen der Gemeinde sorgen (Erklärung von Glaubensbekenntnis, Zehn Geboten, Vaterunser, Taufe, Abendmahl, Beichte), zumal viele Pfarrer nicht in der Lage gewesen sind, das Elementarwissen zu vermitteln. Er setzt daher nicht nur inhaltliche Impulse, sondern auch auf pädagogische. Durch seinen Frage-und-Antwort-Aufbau ist er in seiner Zeit wegweisend für den kirchlichen Unterricht. Der große Katechismus ist schließlich für die Unterrichtung der Pfarrer und Prediger gedacht, er ist daher viel umfassender. Im Kern entwickelt sich die volkskirchliche Struktur mit einer kirchlichen Minimalbildung, wie er im Katechismus niedergelegt wird.

Dennoch bleiben die Probleme der Gemeinden erhalten. Evangelische Pfarrer sind selten, die pastorale Betreuung der Gemeinden ist nicht sehr intensiv: mehrere kleine Dörfer bilden eine Pfarrei. Pfarrer werden schlecht behandelt und versorgt; mit ihrer Autorität in Fragen der Sittenzucht ist es schlecht bestellt. Auch die Baumaßnahmen bei Pfarrhäusern sind oft unzureichend. Luther spricht in den Tischreden von der Undankbarkeit gegenüber dem Evangelium. Aber auch seine Klagen über den Lebenswandel und die Lehre der Pfarrer sind überliefert.

Nachdem die alten Zwangsmittel in den Kirchen abgeschafft worden sind, tut jeder, was er will. Die Kehrseite der Rechtfertigung aus Glauben ohne die Werke des Gesetzes führt dazu, dass die Menschen weder in die Gottesdienste gehen noch Werke für den Nächsten tun. Wieder und wieder klagt schon Luther, dass es in der Gemeinde keine guten Werke gibt. Anfang 1530 geht er sogar in einen Predigtstreik.

Staat und Kirche

Aus den Visitationen entstehen schließlich die evangelischen Landeskirchen. Jeder evangelische Landesherr ergreift die Initiative und baut eine Kirchenverwaltung auf. Formell steht der Landesherr an der Spitze der Kirche, er mischt sich allerdings in Lehrfragen kaum ein. Man spricht vom „Landesherrlichen Kirchenregiment“, es hat in Deutschland bis 1918 Bestand, erst das Ende der Monarchien in Deutschland sorgt dafür, dass die Kirchen Bischöfe, Kirchenpräsidenten oder Präsides an ihre Spitze stellen.

Die enge Verbindung von Kirche und Staat findet verfassungsrechtlich im Augsburger Bekenntnis (1530) seinen Niederschlag, das die Glaubensrundlage für die evangelisch-lutherischen Landeskirchen wird. Hier spiegelt sich der spezifisch volkskirchliche Charakter der Reformation wider, die auf religiös-kulturelle Durchdringung der Bevölkerung abzielt und auf eine Volkskirche setzt.

Verbunden durch das Augsburger Bekenntnis streiten sich die Nachfolger Luthers über das rechte Verständnis seines Erbes. Die Schüler Melanchthons („Philippisten“ genannt) stehen den „unverfälschten“ Lutherschülern („Gnesiolutheraner“ genannt) gegenüber. Jahrelange Konflikte prägen den Alltag der verschiedenen Parteien. Endlich gelingt 1577 ein Ausgleich in der Konkordienformel: man einigt sich auf die lutherischen Grundlehren und trennt sich von extremen Positionen. Die Konkordienformel wird als „Wiederholung und Erklärung etlicher Artikel der Confessio Augustana“ verstanden. 1580 fassen die Lutheraner schließlich ihren Glauben in ihren Bekenntnisschriften zusammen, die als Richtschnur des Glaubens dienen sollen. Die Sammlung wird „Konkordienbuch“ genannt; es unterschreiben 86 Reichsstände und über 8.000 Theologen. Der Kampf um die reine Lehre innerhalb des Luthertums ist damit beendet. Damit ist auch die Ausgangsbasis zur Unterscheidung von Katholizismus (Trient) und Calvinismus gegeben.

Nach Abschluss der innerlutherischen Lehrauseinandersetzungen beherrscht der Kampf um die Reinheit der Lehre (Orthodoxie) mit anderen Konfessionen das Luthertum. Ansätze zur Reformation des Lebens der Gläubigen und der Gemeinden etwa bei Johann Arndt bleiben vor dem Aufkommen des Pietismus Randerscheinungen.