Wichern – Diakonische Mission

Johann Hinrich Wichern (1808-1881) ist die zentrale Gestalt für die Kirchengeschichte des 19.Jh und steht insbesondere für eine Gesellschaftsreform aus christlicher Verantwortung. Selbst in schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen, hat er einen Blick für soziale Randgruppen und möchte ihnen eine Chance vermitteln.

https://klausmeiss.de/geschichte/19-20jh/kirche-und-gesellschaft/

Seine Hoffnung gründet auf einer neuen Verkündigung des Evangeliums in neuen Formen. Die Innere Mission ist sein zentrales Anliegen. Von Anfang an verbindet er dieses Anliegen mit ganz praktischer Hilfe, Mission und Diakonie gehören für ihn ganz eng zusammen.

In den Anfängen der Industrialisierung in Europa sieht er vor allem die Schattenseiten der sozialen Entwurzelung. Für Waisenkinder errichtet er ein Kinderheim, das nach dem Vorbild von Familien in Gruppen von „Brüdern“ geleitet wird. Für diese Erzieher entwickelt Wichern das Konzept einer doppelt qualifizierenden pädagogischen Fachschule.

Auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 entwickelt er programmatisch in einer Stegreifrede sein Konzept der Inneren Mission.

Darüber hinaus zeigt sein Leben eindrücklich das Erleben von Selbsttranszendenz (in Anlehnung an Hans Joas).

Akteur: Wichern als Akteur der Inneren Mission

Johann Hinrich Wichern (1808-81) stammt aus Hamburg, seine Eltern leben in einfachen Verhältnissen: Die Mutter ist Tochter eines Schreibers, die als Wäscherin zum Familienunterhalt beiträgt. Der Vater ist zunächst als Arbeiter in verschiedenen Tätigkeiten beschäftigt, dann wird er Schreiber bei einem Notar und wird schließlich selbst zum Notar bestellt. Dieser soziale Aufstieg ermöglicht es, dem Sohn Johann Hinrich eine gute Ausbildung an einem Gymnasium zukommen zu lassen, dazu erhält er Klavierunterricht. 

Als der Vater bereits 1823 mit 47 Jahren stirbt, muss Wichern als Ältester die Mutter bei der Versorgung der sechs Geschwister unterstützen. Zunächst gibt er Klavierunterricht, dann unterrichtet er alte Sprachen. Ab Januar 1827 arbeitet er als Erziehungsgehilfe in einer Schule für Kinder der Hamburger Oberschicht. Er kann aber dennoch die Zulassung auf die Universität erreichen. In jener Zeit beginnt er, ein Tagebuch zu führen. 1827 notiert er darin, dass er drei Jahre zuvor wirklich begonnen habe zu lernen und sein geistliches Leben begann. Offenbar ist er in der Zeit seines Konfirmandenunterrichts zum Glauben bekommen, er ist geistlich erwacht. Religiös zählt sich Wichern zu „Erweckten“, so bezeichnet man im 19. Jh die Nachfolger des Pietismus (Spener, Francke, Zinzendorf). Die Erweckten verstehen sich als Menschen, die aus dem Schlaf aufwachen, die dann nicht mehr wie im Traum leben, sondern gleichsam die echte Wirklichkeit versetzt sind. Über seine Bekehrung schreibt Wichern:

Der Durchbruch geschah damals, als Gottes Geist mich anfing, von neuem zu gebären. Das Licht des Evangeliums erleuchtete auch für mich die Wissenschaften, und von der Zeit an (das getraue ich mich ohne Anmaßung und Dünkel zu gestehen) habe ich Fortschritte in jeglichem gemacht.

Wichern zitiert nach Talazko 1985: 46

Er erlebte also eine „Wiedergeburt“ durch Gottes Geist und die gute Botschaft. Mit diesem Neuanfang beginnt er sich auch für die Wissenschaften und auch Bildung zu interessieren. 

Dazu kurz wenigstens so viel: Mit der Aufklärung im 18. Jh begann die Epoche der Vernunft, alles wird der Vernunft unterworfen, traditionelle Glaubensvorstellungen (Sünde, Erlösung, Auferstehung) verlieren ihre vernünftige Begründbarkeit. Die biblischen Überlieferungen werden höchstens noch symbolisch verstanden, Wunderberichte werden grundsätzlich in Frage gestellt. Diesen Weg gehen erweckte Christen nicht mit, sie berufen sich – ähnlich wie Wichern – auf ihre religiöse Erlebnisse mit Gott (vgl. Franckes Bericht von seiner Bekehrung).[1]

Die Lehrer des Gymnasiums, an das Wichern geht, setzen sich sehr kritisch mit der Erweckungsbewegung auseinander. Sie können dieser Form von Religion nichts abgewinne, denn sie setzen ganz auf die Vernunft. Wichern wird von seinen Lehrern wiederholt als „Schwärmer“ bezeichnet, also als einer, der nicht seiner Vernunft folgt. Wichern scheint aber sehr klug gewesen zu sein, denn trotz seiner „Schwärmerei“ kann er durch Stipendien studieren.  So studiert er zunächst in Göttingen und später in Berlin Theologie. 1832 legt er in Hamburg die theologische Prüfung ab, damit steht er auf der „Kandidatenliste“ für ein Pfarramt, das er allerdings nie übernehmen wird. 

Wie andere Absolventen der Theologie arbeitet er als Lehrer, und zwar in einer Sonntagsschule. Dort werden Kinder der Unterschicht, die keine Schule besuchen, von Ehrenamtlichen unterrichtet, Wichern leitet diese Aushilfslehrer an. Zu seinen Aufgaben gehört damals auch, die Kinder zu Hause zu besuchen. Bei diesen Begegnungen gewinnt er den Eindruck, die Ursachen der Armut sei das „Sittenverderben des Volkes“, das aus der „Irreligiosität“ erwachse. Der fehlende Glaube sei also schuld an der Armut. Die Armen Hamburgs sind aber eigentlich Opfer des „Pauperismus“ (von lt. „pauper“ – arm) zu Beginn des 19. Jh., damit bezeichnen schon die Zeitgenossen die strukturelle Armut infolge von Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit und Industrialisierung. 

Wichern ist auf der Suche nach einer Tätigkeit für Gott, er möchte „einen Wirkungskreis vom Herrn angewiesen bekommen […], in welchem ich ihm dienen könnte, sein Reich unter den Armen unserer Stadt bauen zu helfen“ (Talazko 1985: 48). Offenbar reicht ihm die Tätigkeit als Lehrer nicht aus. 

Durch einen 1832 entstandenen Besuchsverein gewinnen wohltätige Hamburger mit Wichern die Überzeugung, in Hamburg sollte ein Rettungshaus errichtet werden. Da Wichern damals nicht mit einer baldigen Anstellung als Pfarrer rechnet, wird er am 31. Oktober 1833 erster Leiter des Hamburger Rettungshauses, das auf dem Besitz des reichen Hamburgers Sieveking in Horn liegt und als „Rauhes Haus“ in die Geschichte eingeht. Nach seiner Lehrertätigkeit wechselt Wichern in das sozialpädagogische Arbeitsfeld und eröffnet eine Jugendhilfeeinrichtung. 

Handlungsmuster

In das „Rauhe Haus“ zieht Wichern mit seiner Mutter und einer seiner Schwestern ein, nach einer Woche kommen die ersten drei Jungen, am Jahresende ist das erste Dutzend voll. Schon 1834 muss ein weiteres Haus gebaut werden, ab 1835 werden auch Mädchen aufgenommen. Aus dem Rettungshaus entsteht bis 1883 ein „Rettungsdorf“ mit 30 Häusern, „eine kleine christliche Kolonie“ (Talazko 1985: 51). Auf dem Gelände finden wir landwirtschaftliche Gebäude, Bäckerei und Wäscherei sowie verschiedene Werkstätten für Textilien (Schneider, Spinner), Schuhherstellung, Schreiner, Korbmacher, Druckerei und Buchbinder. 

Neben dem Rettungshaus gründet Wichern bald eine Diakonengemeinschaft, die als Erzieher mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten und bei ihnen leben. Wichern sieht von Anfang an die Notwendigkeit der Ausbildung geeigneter Mitarbeiter, seine Vision geht weit über das Rauhe Haus hinaus. 

Er möchte so Menschen ausbilden, die als Armen- und Volksschullehrer, Erzieher, Katecheten, Krankenpfleger und Missionarearbeiten unter Auswanderern, in Gefängnissen und in den Armenvierteln. Eine neuartige Ausbildungsstätte entsteht, um junge Männer auf die Tätigkeit vorzubereiten, die eine christliche Gesinnung, eine technische Befähigung und eine pädagogische Begabung mitbringen. Diese Mitarbeiter erhalten Unterkunft und Verpflegung und ihre Ausbildung. Damit legt er die Grundlage für die spätere Fachschulausbildung, die auf einer ersten (handwerklichen) Berufsausbildung aufbaut.

Die Ausbildungsinhalte ändern sich je nach Bedarf der Auszubildenden und den Notwendigkeiten im Haus. Dabei lernen sie auch voneinander die Grundfertigkeiten der jeweils anderen Handwerke, die ihre Mitbrüder beherrschen. So mutet diese Ausbildung sehr modern an, Wichern arbeitet nach einem dualen System, in dem Ausbildung und Arbeit immer den Alltag der Auszubildenden bestimmen. Ihnen wird dabei nicht nur Wissen vom Lehrer vermittelt, sondern sie sind gegenüber ihren Kollegen selbst in der Lehrerrolle und geben ihr Wissen weiter. Gegenüber den Kindern treten sie wie deren Brüder auf und nicht als deren Lehrer, auch wenn sie diese in den Elementarfächern Rechnen, Lesen, Schreiben und Singen unterrichten. Darüber hinaus sind sie auch für die seelsorgerliche Begleitung der Kinder zuständig.

Neben seiner Arbeit im Rauhen Haus gibt Wichern seit 1844 die „Fliegenden Blätter“ heraus, in denen er für den Gedanken einer groß angelegten Inneren Mission in Deutschland wirbt, es geht ihm um eine Verbindung von Evangelisation und Diakonie, von Anfang an sind bei ihm Evangelisation (Volksmission) und soziales Engagement verbunden. Da die Finanzen von den Hamburgern nicht aufgebracht werden, wirbt er 1843 im gesamten evangelischen Raum um Spenden mit einer „Nachricht über das Gehilfeninstitut, als Seminar für die innere Mission unter deutschen Protestanten, im Rauhen Haus zu Horn bei Hamburg“ (Talazko 1985:53).

Das Rauhe Haus etwa 1850

Auf diese Weise wird Wichern in ganz Deutschland bekannt, als mitten in den revolutionären Wirren in der Mitte des Jahrhunderts ein erster evangelischer Kirchentag in Wittenberg abgehalten werden soll, sucht man auch ihn als für das Anliegen zu gewinnen. Seine Mitarbeit macht er davon abhängig, ob man die soziale Frage in die Erörterungen aufnehmen würde. Als man dies zugesteht, sagt er zu und ist im September 1848 unter den 500 Versammelten dabei (Meiss 2011: 300ff.).

Auf dem Wittenberger Kirchentag kann Wichern 1848 eine Rede aus dem Stegreif halten, die über eine Stunde geht und die den Protokollführer aufgrund ihrer Lebendigkeit, ihrer Fakten und Namen überfordert. Daher erhält er die Aufforderung, eine Denkschrift zu verfassen. Die Versammelten lassen sich gewinnen, er selbst hält diese Stunde für einen Höhepunkt seines Lebens. Intensiv wirbt er für die Diakonie, die die Kirchen noch nicht als ihre Aufgabe erkannt haben. 

Angesichts der kommunistischen Propaganda (Marx & Engels veröffentlichen 1848 das „Kommunistische Manifest“) fordert Wichern auf dem Wittenberger Kirchentag das Erwachen der Kirchen vor den sozialen Missständen der Zeit. Den Wunsch nach einer Revolution sieht Wichern bei den Unterschichten bereits weit verbreitet, es bedürfe nur noch des berühmten Funkens, um die Explosion auszulösen. Ausgehend vom Recht der freien Vereinigung sollen diakonische Einrichtungen der Revolution entgegentreten. 1849 veröffentlicht er seine Denkschrift über die Innere Mission, in der er die Diakonie aus der Menschwerdung und Auferstehung Jesu begründet.

Durch seine Rede erreicht er die Einrichtung des Central-Ausschusses für Innere Mission (CA), aus der das moderne Diakonische Werk hervorgeht. Wichern wird bald zum Vorsitzenden dieses Gremiums, das aus 12 hochgestellten Personen aus Staat und Kirche besteht. Zunächst geht es darum, Landesvereine in den Landeskirchen zu gründen, das erweist sich namentlich in lutherischen Landeskirchen als schwierig. Ausgangspunkt der lokalen Arbeit sind für ihn die damals neu entstandenen Vereine, mit deren Hilfe er das Werk vorantreiben will, zumal sie die Möglichkeit bieten, das allgemeine Priestertum ins Spiel zu bringen.

Vision

Drei Aspekte lassen sich bei ihm unterscheiden. Bei der Arbeit mit Waisenkindern im Rauhen Haus steht bei Wichern das Familienprinzip im Zentrum, die Kinder werden nicht in einem Massenquartier untergebracht, das an eine Kaserne oder gar ein Gefängnis erinnern könnte, sondern in Häusern zusammen mit einem Dutzend anderer Kindern. Gerade weil Wichern in seinen Hausbesuchen vielfach zerrüttete Familien gesehen hat, will er den Kindern hier neue Erfahrungsräume eröffnen. Hier sollen die Kinder die Erfahrung mit Vertrauen und Gemeinschaft machen. 

Die Familie ist der natürliche sittliche Kreis, in welchem das Gute in das menschliche Gemüt hineingelegt, in welchem es gepflegt und geschützt werden soll. (zit. nach Krimm: Quellenbuch II, 1962 S. 167 )

Die Diakonenausbildungsstätte beginnt eine neuartige duale Ausbildung: die grundständig ausgebildeten Handwerksgesellen erlernen zusätzlich pädagogische und theologische Kompetenzen, die sie neben dem Unterricht gleich in der Praxis mit den Kindern umsetzen können. Hier wird also die moderne Fachschule entwickelt. Da die Schüler sich auch gegenseitig Dinge beibringen, zeigen sich starke partizipatorische Züge. Die Absolventen arbeiten als Erzieher, Seelsorger, Evangelisten und Missionare.

In seiner Denkschrift zur Inneren Mission (1849) kritisiert er im Rahmen eines kirchengeschichtlichen Überblicks, dass mit der Konstantinischen Wende die äußere Mission nicht zur inneren Mission geworden ist. Ähnlich sei dann die Mission der germanischen und slawischen Völker verlaufen. In der Reformation hätten die Obrigkeiten ihre Länder dem „neuen Glauben“ geöffnet, ohne das „Volksleben“ zu verändern. Die „Lebensverhältnisse des Volkes“ seien von der Reformation nicht wirklich verändert worden. Nun ist für ihn die Zeit einer neuen Mission, bald wird man von Evangelisation sprechen.

Für ihn geht es im Reich Gottes nicht nur um die Rettung einzelner, sondern um die Transformation ganzer Völker mit ihren öffentlichen und privaten, gesellschaftlichen und kirchlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Strukturen. Alles solle sich nach den Regeln des Reiches Gottes entwickeln, die Kultur solle christlich werden (V,241)! Das Reich Gottes verwirklicht sich also nicht nur in der Kirche, sondern in Familie, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst. Das ganze Leben des Volkes solle erneuert werden (III,2,147f.). Insgesamt geht es nach seiner Vision also um die Ausbreitung des Reiches Gottes. 

Wirkung

Mit Wichern setzt in den evangelischen Kirchen eine intensive Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage ein. Unzählige diakonische Vereine entstehen, in denen Evangelisation und soziale Fürsorge verbunden sind.

Die strukturellen Herausforderungen durch die beginnende industrielle Revolution, deren zerstörerische Auswirkung auf die Familien nimmt er kaum wahr. Sein Anliegen ist die neue Missionierung Deutschlands, er hofft so auf eine echte Volkskirche, die alle Bereiche des Lebens durchdringt. Dabei setzt er ganz neu auf Vereinigung der Hilfsbedürftigen, sieht die Notwendigkeit einer inneren Mission, die Armen sollten durch andere begleitet und gefördert werden. Ihm geht es keineswegs nur um das Stillen sozialer Bedürfnisse, vielmehr setzt er auf eine echte Wiedergeburt der Menschen und des Volkes.

Mit Wichern tritt evangelische Kirche in die Soziale Arbeit ein, anfangs arbeiten Evangelisation und Diakonie Hand in Hand, später wächst die Diakonie der Evangelisation „über den Kopf“. Ein Großteil gesellschaftlicher Akzeptanz von Kirche heute kommt aus dem sozialen Engagement der Kirche.

Literatur

  • Herbert Krimm 1963: Quellen zur Geschichte der Diakonie. II. Reformation und Neuzeit. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk
  • Wolfgang Philipp 1988: Der Protestantismus im 19. und 20. Jh. (= Klassiker des Protestantismus) Wuppertal: R. Brockhaus
  • Helmut Tlazko 1985: Johann Hinrich Wichern. In: Martin Greschat 1985: Die neueste Zeit 1 (Gestalten der Kirchengeschichte 9,2) Stuttgart: W. Kohlhammer

[1] 1899 hatte Friedrich Schleiermacher seine „Reden an die deutsche Nation“ veröffentlich, darin begründet er die Religion nicht aus der Vernunft und auch nicht aus der Tradition. Für ihn beschreibt Religion das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Religion hat also mit dem Gefühl zu tun. Daran knüpfen viele Erweckte an.