Vertiefung Biografielernen

Hilfreich sind zunächst die folgenden Begriffe

  • Vorbilder haben besondere Eigenschaften oder Handlungen, die Menschen nachahmen oder mit denen sie sich identifizieren. Heute treten neben die ganz Großen (Luther, Wichern, Bonhoeffer) die „Local Heros“… Für viele sind aber auch die eigene Mutter, der Jugendreferent oder die Trainerin Vorbilder.  (Für die Reflexion hilft auch die Frage: Was bewundere ich an bestimmten Menschen oder ihrem Verhalten?)
  • Modelle stehen (in der Lernpsychologie) für ein Verhalten in ausgewählten Situationen, das nach den Forschungen von Albert Bandura übernommen wird bzw. zum reflektierten Handeln befähigt.  (Reflektionsfrage: Wo werde ich in ähnlicher Weise in meinem Leben gefordert?)
  • Helden zeichnen sich durch Mut und Opferbereitschaft aus, sie werden nicht nachgeahmt, sondern die Orientierung dient eher der Wertebildung. Häufig Platzhalter für Tugenden wie Mut, Opferbereitschaft, Klugheit, Gerechtigkeit… (Reflexionsfrage: Wer ist warum mein Held?)
  • Heilige bezeichnet Mendl 2015: 48 als  „Symbole für gelingendes Christsein“. Viele Lebensbilder von Heiligen der frühen Kirche erscheinen uns heute geradezu als weltfremd. Das gilt zum einen für die legendarische Darstellung, aber auch für den Inhalt: Viele Heilige sind Asketen, die sich aus dieser Welt lösen und für sich und Gott in der Abgeschiedenheit der Wüste leben (Antonius und die Anachoreten).

So können wir an anderen Lernen, ihre Selbstwerdung in den Blick nehmen, über ihre Selbstverantwortung nachsinnen, ihre Fähigkeiten, Ideale, Charismen und Wünsche mit unseren vergleichen.

Die Heldeneuphorie früherer Jahre ist nach den Stürmen des 2. Weltkriegs in Mitteleuropa diskreditiert worden. An die Stelle personenorientierter Geschichtsschreibung hat man sich zunächst den Kollektiven zugewendet, die Sozial- und Strukturgeschichte erschloss neue Aspekte der Geschichtsbetrachtung und brachte neue Zusammenhänge ans Licht (Lindner 2007: 63f.). Aber seit dem Ende des 20. Jh. hat hier ein Umdenken eingesetzt. Das zeigte sich plötzlich am Erscheinen von Biografien auf dem Buchmarkt und dem großen Interesse bei den Lesern. Historiker und Lehrer haben neu gelernt, dass neben strukturellen Momenten eben auch Persönlichkeiten eine große Rolle in der Geschichte gespielt haben. Individuum und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig und lassen sich auch im Verstehen und Vermitteln von Geschichte nicht trennen (Lindner 2007:65ff.). Entsprechend entdecken auch Religionspädagogen die Bedeutung von Biografien auch für den Religionsunterricht neu.
Das hat in der Geschichte des Christentums natürlich eine sehr lange Tradition, schon seit den Anfängen orientieren sich Glaubende an Vorbildern. Zunächst richtete sich die Aufmerksamkeit auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens. Bald aber spielen bekannte Figuren wie Petrus oder Paulus eine Rolle, später sind Märtyrer als besondere Glaubenszeugen von Interesse, dann eben solche Geschwister, die durch ihr Leben vorbildlich erscheinen: Gemeindeleiter, Bischöfe, Mönche und sogenannte Heilige.
Unter den vorhandenen Methoden biografischer Vermittlung stand das klassische Vorbild-Lernen im Kreuzfeuer der Kritik der Frankfurter Schule, die jede Erziehung durch Autorität ablehnte und alle Vorbilder unter Generalverdacht stellte. Schließlich konnte zunächst der Begriff des Vorbildes etwas besser geklärt und neu definiert werden. Ein Vorbild ist danach eine Person, deren Leben andere Menschen so beeindruckt, dass diese sich (freiwillig!) mit ihr identifizieren. Lernende müssen sich also von sich aus für die Vorbildlichkeit eines anderen entscheiden. Das lässt sich in Verkündigungsspiel- und Unterrichtssituationen natürlich nicht wirklich planen.
Danach kamen die didaktisch-methodischen  Untersuchungen von Albert Bandura, der das „Lernen am Modell“ untersucht und propagiert hat (Lindner 2007: 91ff.). Wichtig sind besonders seine Erkenntnis, dass Jugendliche selektiv auswählen, was sie von anderen übernehmen, und dass sie dabei reflektieren. Modell-Lernen fordert geradezu zur kritischen Reflexion auf, und das ist ja auch an der Vermittlung von Vorbilder sehr wichtig.
Entstanden ist daraus das biografische Lernen, in dem Menschen sich ihrer eigenen Lebensgeschichte bewusst stellen, sich erinnern, sich selbst reflektieren und ihre Erfahrungen für sich und andere transparent machen. Insbesondere soll es ihnen so ermöglicht werden, ihren Selbstentwurf konkreter zu fassen. Gerade bei Erwachsenen wird dem Erzählen über sich selbst ein breiter Raum geöffnet, das ermöglicht den Teilnehmenden das bessere Verstehen und Aneignen eigener Geschichte, letztendlich aber die Förderung von „Identitätsentwicklung und Subjektwerden des Individuums“ (Lindner 2007: 97f.).
Das hat dann aber auch neu das Interesse für historische Biografien geweckt. Historische Untersuchungen beschäftigten sich auch mit der Frage, wie Personen sich mit den historischen Veränderungsprozessen auseinandersetzten und wie Biografisches dabei den Lauf der Geschichte mitbestimmt hat. Das biografische Lernen in Religionsunterricht nimmt das Interesse an den Biografien anderer auf, „persönliche Sichtweise, Erfahrungen, Gefühle und Interpretationen gesellschaftlicher, historischer und kultureller Gegebenheiten“ werden präsentiert und so zum Unterrichtsgegenstand (Lindner 2007: 97). In Auseinandersetzung mit dem Leben der anderen sollen und können die Lernenden eine eigene Haltung entwickeln und mit anderen vergleichen. Auch hier kann der Austausch mit den anderen aus der Lerngruppe eigene Erinnerungen hervorrufen und zum Überdenken des eigenen Lebensentwurfs und der eigenen Haltung anregen.
Alle skizzierten Lernarrangements fördern die kritische Selbstvergewisserung der jungen Erwachsenen, haben Identitätsentwicklung und Haltung im Blick und sind insofern auch Antwort auf die Herausforderungen bei der Suche nach Identität heute.

Literaturhinweis:

  • Lindner, Konstantin 2007: In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht. Göttingen: V&R unipress S. 29-86
  • Hand Mendl (2015): Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien. Stuttgart: W. Kohlhammer (Religionspädagogik innovativ 8) S. 17-49
  • Oerter, Rolf und Leo Montada 2002: Entwicklungspsychologie. 5., vollständig überarbeitete Auflage, Weinheim: Beltz