Kirche und Gesellschaft

Revolution und Restauration

Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche

Mit der Französischen Revolution beginnt die Moderne: Für die Kirchen Europas setzt ein einzigartiger Traditionsbruch ein. Durch die enge Zusammenarbeit von Kirche und Staat richten sich die revolutionären Kräfte in Frankreich gegen beide Institutionen des Ancien Regime. Zunächst wird der Staatsbankrott aus dem Vermögen der Kirche abgewendet. Als sich Priester gegen die Neuordnungen stellen, da sie den Eid auf die Verfassung verweigern, setzt eine regelrechte Verfolgung ein. Priester werden eingesperrt und getötet, Kirchen werden als Pferdeställe und Magazine umfunktioniert. Die französische Kirche verliert ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Für die Kirchen Europas wird diese Erfahrung zum paradigmatischen Lehrstück: die Kirchen stehen allen politischen Veränderungen künftig kritisch gegenüber; Thron und Altar sehen sich aufeinander angewiesen, Kirchen sind und bleiben bis ins 19. Jh. konservativ!

Karikatur aus Bayern zeigt wie der Bair. Löwe den Reichs-Adler verdrängt und Kirchenleute Reichtümer herbeischaffen und abgeben.

Nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803  sind die kleineren Territorien und geistlichen Gebiete in Deutschland auf wenige große Länder verteilt worden. Hat das Alte Reich noch aus über 300 Territorien bestanden, so werden im Deutschen Bund nur noch 38 Bundesstaaten gezählt. Mit der Niederlegung der Kaiserkrone 1806 endet das heilige Römische Reich deutscher Nation, damit verlieren auch die evangelischen Staaten ihren Zusammenhalt, den sie als Corpus Evangelicorum seit 1653 als Vertretung der evangelischen Stände auf den Reichstagen gehabt haben.

In den deutschen Bundesstaaten haben die Länder nach Artikel 14 und 16 der Bundesakte die Aufsicht in Kirchen- und Schulsachen (vgl. KThGQ IV/1 , S 178), die Kirchen sind also weiter Staatskirchen. Dennoch werden Kirche und Staat infolge der konfessionellen Veränderungen gesondert, die Kirchen bleiben dem Staat unterworfen. Auch wenn die deutschen Staaten sich zunehmend als säkular verstehen und sich gegenüber den Kirchen auf ihrem Staatsgebiet neutral verhalten, lassen sie die Kirchen noch volkspädagogisch gegen soziale und politische Veränderungsbemühungen in Dienst. Die Kirchenleitung geschieht durch die Konsistorien als staatliche Behörden.

Da die konfessionelle Geschlossenheit der Bundesstaaten aufgegeben ist, sind die Staaten zu Toleranz und Parität angehalten. Der Aufbau neuer Verwaltungszentren bringt etwa evangelische Beamte in das katholische Rheinland, wo evangelische Kirchen errichtet werden, in anderen Ländern werden katholische Kirchen in evangelischen Städten gebaut. Wie es im Zuge der Befreiungskriege Hoffnung auf einen deutschen Staat gegeben hat, so setzen sich viele für eine deutsche Nationalkirche ein (Schleiermacher, Arndt). Mit der Restauration ebbt dann sowohl der nationale wie der nationalkirchliche Enthusiasmus ab.

Was die römisch-katholische Kirche in Deutschland angeht, so erlebt sie einen enormen Traditionsbruch, denn sie verliert ihre politischen Herrschaftsgebiete, in denen Bischöfe oder Äbte seit dem Hochmittelalter landesherrliche Aufgaben übernommen haben. Diese ehemals „geistlichen“ Gebiete werden nun auf die verbleibenden deutschen Staaten aufgeteilt. Eine Folge besteht darin, dass die Territorien ihre konfessionelle Geschlossenheit nicht mehr zeigen und der Grundsatz cuius regio, eius religio (1555/1648) seine Gültigkeit verliert. Diese Entwicklung führt jedoch zu einem Neuaufbruch des Katholizismus, dieser richtet sich auf Rom aus, die moderne „Papstkirche“ formiert sich. Die katholischen Christen finden in der neuen Ausrichtung Halt gegen alle Formen des Modernismus in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft. Seit 1830 entsteht ein katholisches Pressewesen und zahlreiche Vereine, die von den Geistlichen geleitet werden.

Im Rahmen der preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jh. werden die evangelischen Kirchen im Rahmen der Staatsverwaltung neu gegliedert, die Kirchenleitung liegt bei den Landesherrlichen Konsistorien, die vom Kultusministerium beaufsichtigt werden. In den acht preußischen Provinzen unterstehen die Gemeinden dem Konsistorium, die von den Oberpräsidenten geleitet werden. Zum Konsistorium gehören theologische und juristische Räte sowie die Generalsuperintendenten als leitende geistliche Beamte, praktisch sind die reformierten und lutherischen Gemeinden so in einer Verwaltungsunion seit 1815/17. Mit dem Reformationsjubiläum von 1817 setzen Bemühungen um die Einheit der evangelischen Kirche ein. Mit der Aufklärung sind in vielen Regionen die konfessionellen Gegensätze zurückgetreten, daher scheint vielen die Einheit der Kirche möglich; vielfach will man so dem Fortschritt dienen. Aber so einfach liegen die Dinge nicht, während es durchaus Kräfte gibt, die sich für eine Union aussprechen, erhebt sich intensiver Widerstand bei den lutherischen Christen, die ihre Konfession neu entdecken und verteidigen.

Während die Staaten zu Beginn des 19. Jh. gegenüber allen demokratischen Formen sehr distanziert sind, gewährt der König von Preußen 1835 in seinen westlichen Provinzen eine Kirchenverfassung, die sogar Synoden vorsieht. Das entspricht den Traditionen im Rheinland und in Westfalen, die Gemeinden akzeptieren im Gegenzug die umstrittene neue Agende (KThGQ IV/1, S. 190 ff.).

Säkularisierungstendenzen

Erstmals werden antireligiöse Daseinshaltungen und Deutungen artikuliert, so gerät die Kirche unter einen Selbstrechtfertigungsdruck. Die Kirche ist zwar im Bürgertum präsent, aber ihre Rolle im öffentlichen Leben geht weiter zurück. So bemühen sich Theologen wie Schleiermacher (1768-1834) die Bedeutung der Kirche zu verdeutlichen. 1799 veröffentlicht er seine Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Nicht um Moral oder Metaphysik geht es seiner Ansicht nach in der Religion, sondern um eine besondere Dimension des Lebens, um Anschauung und Gefühl, um Erleben des Unendlichen. Natürlich gibt es auch viele Theologen, die in der Tradition der Aufklärung gerade die Bedeutung der Kirche für die Moral der Gesellschaft betonen. Die Kirche hat demzufolge einen Bildungsauftrag und soll die Menschen zu freien Individuen bilden und moralisch verbessern.

Dagegen suchen Theologie und Kirche nach Strategien zur Verbesserung der Kirchlichkeit im Rahmen von Gottesdienst und Seelsorge. Die Evangelische Kirche hat zwar den Anspruch, die ganze Gesellschaft zu erreichen, das entspricht aber der Wirklichkeit nicht mehr. Während der Staat seine Kompetenzen laufend erweitert und Zwischengewalten ausschaltet, die Bürger direkt seinem Zugriff unterstellt (Schule, Wehrpflicht, Polizei und Gerichtswesen), bleibt in der Staatskirche die Verweigerung möglich, ohne dass es dort Sanktionen gibt. Für den modernen Staat spielt die Kirchenzucht keine Rolle mehr. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gewähren die Staaten der Kirche insgesamt mehr Eigenständigkeit, aber keine Unabhängigkeit. Damals kommen neue Probleme für die Kirchen auf, als die Großstädte in Deutschland die traditionellen kirchlichen Strukturen überfordern. Volk und Nation werden zu neuen Themen, nach England und Frankreich wird dies auch in Deutschland seit den Befreiungskriegen von Bedeutung.

Erste freie Gemeinden

Mitten in der Zeit zunehmender Säkularisierung kommt es seit 1820/30 auch zu einer Erweckung, in der das geistliche Leben in den Gemeinden neu aufbricht. Einerseits dreht sich darin vieles um Sündersein und Errettung, andererseits gehen von den Erweckten große Wirkungen im diakonischen und missionarischen Bereich aus. So kommt es auch zu Impulsen der Rechristianisierung.

Zur Zeit der Erweckung entsteht in Deutschland 1834 die erste Baptistengemeinde in Hamburg durch den Erweckten Johann Gerhard Oncken. Da es damals noch keine Religionsfreiheit gibt, kommt es vielfach zu Repressalien der Behörden: Hausdurchsuchungen, Inhaftierungen, Ausweisung und zwangsweise Taufen von Kindern sind an der Tagesordnung. Dennoch entstehen durch Onckens Aktivitäten weitere Gemeinden. Insofern die Kirchen allzu oft ihre Glaubwürdigkeit verlieren, schließen sich Glaubende zu neuen Gemeindeformen zusammen. Nach 1848 entsteht der Bund der Vereinigten Gemeinden getaufter Christen. Im Todesjahr Onckens 1884 hat der Bund 32.000 Mitglieder. 1880 entsteht ein Predigerseminar in Hamburg (1997 nach Elstal bei Berlin verlegt).

Innere Mission

Den revolutionären Aktivitäten der im Vormärz begegnet Wichern mit seinem Konzept einer Inneren Mission. Hat er zunächst mit seinem Rettungshauskonzept den Menschen ganzheitlich helfen wollen, so erweitert er diese Vorstellung dann in die Gesellschaft hinein. Er will die gesellschaftlichen Missstände durch Evangelisation begegnen. Die Entkirchlichung der Massen stellt für ihn das eigentliche Problem dar. Folgerichtig entwirft er ein Rechristianisierungsprogramm der Inneren Mission.

Was von der Kirche als Kirche geschehen muss, um den unteren Klassen der Gesellschaft christlich gründlich zu helfen, ist in dem einen Wort zusammenzufassen: Den Armen muss das Evangelium gepredigt werden! […] Die Frucht wird sein, dass die Armen in Kraft der göttlichen Predigt glauben, glauben, wie das Glauben allein gemeint sein kann, namentlich zur Erneuerung ihres ganzen persönlichen, häuslichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens. Wo dieser Glaube ist, da ist die Grundlage aller Hilfe…
Wichern: Die Proletarier und die Kirche. in: Fliegende Blätter, 1848 zit. nach Philipp: Protestantismus S. 207

Wichern will die Getauften evangelisieren, entwickelt neue gemeindepädagogische Formen: Die Kirche soll zu den Menschen gehen (Straßenpredigten), Wichern sieht neue Orte der Begegnung (Gemeindehäuser oder Kirchsäle in den Mietskasernen der Armenviertel) und fordert neue Mitarbeiter aus den Proletarierkreisen (Prediger). Ein umfassendes Problembewusstsein für die Strukturprobleme der Zeit zeigt er nicht. Immerhin sieht er die große Not und ruft die Kirche zum Handeln auf. Die Aufgabe der Inneren Mission wird eine große Gemeinschaftsaufgabe aller deutschen Landeskirchen, während an ein engeres Miteinander noch kaum zu denken ist.

Karitative Aktivitäten ergänzen die evangelistischen Anliegen und ergeben ein ganzheitliches Konzept von Glaube und Liebe. Hier entsteht seine Konzeption von Volkskirche gegenüber der traditionellen Amtskirche: Alle Kräfte der Gesellschaft sollen gemeinsam daran arbeiten, dass die Kirche wieder mit christlichem Leben erfüllt wird. Dazu sollen auch Laien herangezogen werden. Dahinter steht seine Vorstellung vom Reich Gottes, das dem Reich der Sünde entgegenarbeitet: Durch die Innere Mission sollen die Menschen zurück zu Gott geführt werden, so dass sich das Reich Gottes hier ausbreiten kann und so auch das Elend beendet wird.

Die praktische Durchführung der Inneren Mission (einschließlich sozialpädagogischer und sozialkaritativer Aktivitäten) liegt bei den Vereinen, die sich in der Mitte des 19. Jh. unter dem Central-Ausschuss für Innere Mission zusammengeschlossen haben, der nach Wicherns Stegreifrede am 23.9.1848 auf dem Wittenberger Kirchentag entstanden ist. Durch die sozialkaritative und sozialpädagogische Arbeit ist für viele Menschen die Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft wieder deutlich geworden.

Parallel zu Wicherns Plänen gründen über 50 Pastoren in Barmen 1848 die Evangelische Gesellschaft für Deutschland; hier sammeln sich zunächst lutherische  Pastoren, die volksmissionarisch wirken wollen, man stellt Evangelisten an, die zwischen Mülheim und Solingen arbeiten, immer wieder kommt es zu Konflikten mit örtlichen Pfarrern. In Lemgo gründet man eine Gemeinde, von dort aus besucht ein Reiseprediger umliegende Ortschaften. Die revolutionäre Bewegung im Wuppertal nach dem Scheitern des Paulskirchenparlaments ist der Hintergrund dieser umfassenden Missionsbemühungen. Die Evangelisation des säkularisierten Volkes ist damals Anliegen vieler Frommer; so finanziert Grafe, ein Kaufmann in Barmen, einen Evangelisten.

Zwei Jahre später entsteht in Barmen der Evangelische Brüderverein, der missionarisch bis ins Siegerland wirkt. Nach dem vergossenen Blut auf den Barrikaden der Stadt wird den Vereinsgründern die problematische sittliche und religiöse Situation klar. Bildungs- und Wirtschaftsbürger haben sich zusammengeschlossen, um die Versäumnisse der Vergangenheit anzugehen. Bewusst knüpft man an die neue Möglichkeit der Vereine an, die auch Wichern für seine Vision der Inneren Mission vorantreibt.

Durch die Innere Mission des Volkes zielt man also nicht nur auf die Seelengewinnung, sondern durchaus auf gesellschaftliche Erneuerung und Veränderung. In der neu ermöglichten Form des Vereins kann dieses transformatorische Ziel angegangen werden. Im Verein selbst lebt man neue Formen des Zusammenarbeitens, denn im Verein sind alle gleich, die Geschicke werden gemeinsam demokratisch entschieden. Bald übernimmt der Brüderverein den von Grafe bis dahin finanzierten Mitarbeiter.

Im Kampf gegen die Säkularisierung und für die Evangelisation stellt der Brüderverein weitere Mitarbeiter für missionarische Aufgaben an. Gegenüber diesem missionarischen Aufbruch sind die Verantwortlichen Kirchenvertreter nicht selten reserviert, da sie demokratische und separatistische Tendenzen vermuten. Schließlich geht die Bewegung von Laien aus, die Vereinsmitglieder sind gleich, gegenüber der Kirche ist man unabhängiger. Brockhaus verlässt zwei Jahre nach Gründung den Brüderverein, da er eine eigene Heiligungslehre hat und auch in der Ekklesiologie abweicht. Die angestellten Reiseprediger sollen keine Abendmahlsfeiern halten, da es so Konflikte mit den verschiedenen Gemeinden vor Ort geben wird.

Erste Freie evangelische Gemeinde

1854 gründet Hermann Heinrich Grafe (1818-69) dann in Elberfeld und Barmen die erste Freie evangelische Gemeinde, als einer vom Staat freien Glaubensgemeinschaft, die ihre Geschicke demokratisch in die Hand nimmt. Grafe hat bei einem Aufenthalt in Lyon 1841 die dortige freie evangelische Gemeinde kennen und schätzen gelernt. Wichtig ist ihm der Bezug auf das Neue Testament und das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Die Gemeinde der Glaubenden wird dem Konzept der Volkskirche direkt gegenüber gestellt. Für die neue Gemeinde wird ein ausführliches Glaubensbekenntnis formuliert und eine Verfassung erarbeitet. An den Abendmahlsfeiern sollen nur Glaubende teilnehmen, die Kindertaufe wird toleriert wie eine „Wiedertaufe“.

Die Verfassung der Gemeinde regelt die Beziehungen innerhalb der neuen freien Gemeinde, sie gehört für Grafe selbstverständlich zu einer sichtbaren Gemeinde Jesu Christi. Wichtige Eckpunkte stellen für ihn die Trennung von Gläubigen und Ungläubigen, die Einsetzung von Abendmahl und Taufe, das allgemeine Priestertum der Glaubenden, die Ämter sowie die Gemeindezucht dar. Gerade die Einsetzung der  Ämter spielen für die erste freie evangelische Gemeinde eine zentrale Rolle, sieben der neunzehn Artikel der ersten Verfassung handeln von ihnen. Namentlich werden Älteste und Diakone unterschieden.

Ermöglicht werden diese neuen Kirchen durch die neuen Verfassungen, die im Zuge der Revolution von 1848 in verschiedenen deutschen Staaten erlassen werden. Die Preußische Verfassung von 1850 räumt im Artikel 12 die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung ein. Zugleich gewährt diese Verfassung im Artikel 29 die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen und in Artikel 30 das Recht zur freien Vereinigung. Auf diesen Grundlagen kann man aus den bestehenden Kirchen austreten und sein Bekenntnis frei wählen. So wird Preußen im Hinblick auf Religionsfreiheit im 19. Jh. zum Vorreiter in Deutschland.

Anders als in anderen deutschen Ländern werden Separationen in Preußen von Seiten des Staates nicht bekämpft, wofür nicht zuletzt die persönliche Nähe des preußischen Königs zur Erweckungsbewegung verantwortlich ist. Diese Nähe des Königs wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er im Oktober 1855 in Köln eine Abordnung der Evangelischen Allianz empfängt, die ihm Klagen über Behinderungen der Freikirchen in den deutschen Staaten vortragen. Im September 1857 lädt Friedrich Wilhelm IV. eine Konferenz der Evangelischen Allianz nach Berlin ein und übernimmt die Schirmherrschaft.

Parallel dazu kommt es zur Gründung methodistischer Gemeinden, durch die die amerikanische Erweckungs- bzw. Heiligungsbewegung (s.u. 5.3.x) nach Deutschland kommt. Oft sind es deutsche Auswanderer, die sich in der neuen Welt neu Gott zugewendet haben und die nun in der alten Heimat evangelisieren. Unter den Erweckten gibt es aber auch viele internationale Kontakte, mit großem Interesse verfolgt man die amerikanischen Evangelisationen und hoft auch in Mitteleuropa auf eine Erweckung; es herrscht ein Klima gespannter Erwartung.

Gemeinschaftsbewegung

Bereits seit Mitte des 19. Jh. entstehen Vereine für Volksmission, aus denen sich später die landeskirchlichen Gemeinschaften entwickeln. In Schleswig-Holstein arbeiten die Sendboten des Vereins für Innere Mission. Nach der Reichsgründung kommen dann auch Einflüsse der Oxford-Bewegung nach Mitteleuropa, die etwa durch die Prediger der Pilgermission St. Chrischona verbreitet werden. Aber auch die Bibelschularbeit von Theodor Jellinghaus und die Verbreitung der heilistischen Lehre sind neben dem Wirken des Reichsbrüderbundes seit 1878 unter Johannes Seitz im Osten Deutschlands zu nennen. An verschiedenen Orten kommt es zu erwecklichen Aufbrüchen.

Um den freikirchlichen Bestrebungen entgegen zu wirken, organisiert u. a. der Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb Evangelisationen, zu denen er z.B. den deutsch-amerikanischen Methodistenprediger Friedrich von Schlümbach nach Berlin holt, wo sich unter der Leitung von Eduard von Pückler Gemeinschaften bilden. 1884 gründet Christlieb in Bonn den Deutschen Evangelisationsverein, 1886 ist er an der Gründung der Evangelistenschule Johanneum beteiligt, in der Laien zu Volksmissionaren ausgebildet werden sollen. Die Bekehrten werden in Gemeinschaften gesammelt, die sich auf Luthers dritte Weise des Gottesdienstes (s.o.) berufen. Neben Christlieb wirkt der ehemalige Afrikamissionar Elias Schrenk (1831-1913) als hauptberuflicher Evangelist seit 1879 in der Schweiz und seit 1886 in Deutschland. Bei den zahlreichen Evangelisationen bekehren sich Menschen, die sich zu Gebetsstunden und Bibelstunden neben den kirchlichen Gottesdiensten treffen. Bald entstehen vielerorts neue Gemeinschaften, die sich regional zu Gemeinschaftsverbänden zusammenschließen.

1888 findet in Gnadau bei Magdeburg die erste Konferenz der Gemeinschaftsbewegung statt: Gemeinschaftspflege, Evangelisation, Laientätigkeit und Heiligung sind zunächst die zentralen Themen der Bewegung, die zu dieser Zeit in der Kirche sehr umstritten sind. Nun sammeln sich verschiedene innerkirchliche Gruppen und Kreise, die oft an den älteren Pietismus und die Erweckungsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jh. anknüpfen. Daneben kommen aber auch starke Impulse aus der angelsächsischen Heiligungsbewegung. Ihre Anliegen definieren ihre Vertreter als Evangelisation und Gemeinschaftspflege innerhalb der evangelischen Kirchen. Die Getauften sollen mit dem Evangelium erreicht und zum Glauben gerufen werden, neben den Pfarrern sollen begabte Laien eingesetzt werden. Bei den Bekehrten entsteht dann der Wunsch nach engerer geistlicher Gemeinschaft. Während sich freie Gemeindeformen entwickeln, sehen die Gemeinschaftsleute ihre Platzanweisung in den Kirchen. Württemberg und Baden, das Wuppertal und das Siegerland, der Niederrhein, Minden-Ravensberg, aber auch das Oberbergische Land, Hessen und Nassau, Hamburg und Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg, Ost- und Westpreußen, Sachsen und Schlesien werden besonders von der Gemeinschaftsbwegung geprägt.

Zwar stehen die Gemeinschaften meistens bewusst zu den Landeskirchen, deren Leitungen scheinen sich dieser Nähe aber nicht nur zu freuen. Offizielle Stellungnahmen sind zunächst sehr verhalten. Das mag auch an den sehr unterschiedlichen Haltungen der Gemeinschaftsleute zu den Landeskirchen liegen. Während etwa die Altpietisten in Württemberg ganz traditionell kirchennah agieren, verhalten sich die Anhänger der angloamerikanischen Heiligungsbewegung eher distanziert. Während die Eisenacher Kirchenkonferenz noch 1896 gegenüber der Evangelisationstätigkeit trotz einer Reihe von Fürsprechern distanziert bleibt, setzt die Generalsynode der altpreußischen Union am Ende des Jahres 1897 einen Ausschuss für Evangelisation und Innere Mission ein, man zeigt sich so gegenüber der evangelistischen Verkündigungsform aufgeschlossen. Unterdessen wird 1897 der Deutsche Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation gegründet, der die Gemeinschaften auf Innerlichkeit, die Bibel und die reformatorischen Bekenntnisse festlegt. Noch ist die Bewegung denkbar klein, nur langsam entwickeln sich Strukturen. Die Kirchen setzen auf die berufenen Pfarrer und bleiben distanziert; mitunter werden Versammlungen durch die Polizei nach landeskirchlicher Intervention aufgelöst. Aber es gibt auch eine ganze Anzahl von Pfarrern, die sich der neuen Bewegung anschließen und mit prägen. Bis zum Beginn des 20. Jh. werden vielerorts Gemeinschaften gegründet, die verbindliche Gemeinschaftsformen einführen und Parallelstrukturen zu Kirchengemeinden ausbilden.

Im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Heiligungsbewegung kommen neue Elemente in die erweckten Kreise. Die Sehnsucht nach Sündlosigkeit führt viele zur Abgrenzung zur verfassten Kirche, in der zwischen Sündern und Glaubenden nicht unterschieden werde. Namentlich die kirchlichen Abendmahlsfeiern führen zur Ablehnung und zur Etablierung eigener Feiern, wodurch die Einheit der Ortsgemeinde gewissermaßen aufgegeben wird.  Regelmäßig laden geistliche Zentren  und Verbände zu Konferenzen ein, um die Gemeinschaftsleute zu ermutigen, zu schulen und Raum zum Austausch zu geben. Insgesamt bleibt die Bewegung überkonfessionell ausgerichtet und dem Reich Gottes verpflichtet. Ihre Arbeitszweige sind Evangelisation, Ausbildung von Predigern und Diakonissen (z.B. Pilgermission St. Chrischona, Evangelistenschule Johanneum, Bibelhaus Malche in Bad Freienwalde, Gemeinschafts-Diakonissenhaus in Borken bzw. Vandsburg). Dazu entstehen verschiedene Werke wie das 1888/92 Blaue Kreuz (Alkohlmissbrauch), 1890 Weißes Kreuz (Sexualität und Seelsorge), CVJM (1883), Christliche Studentenvereinigung (1890/95), Jugendbund für eC (1894). Schließlich unterstützt man auch die Äußere Mission (deutscher Zweig der China-Inland-Mission in Liebenzell, Sudan-Pionier-Mission, Deutscher Hilfsbund für christliche Liebeswerk im Orient).

Nach dem ersten Weltkrieg ändern sich die Verhältnisse für die Christen in ganz Europa. In der Türkei werden die armenischen Christen systematisch verfolgt und einem Völkermord unterworfen, der von Europa kaum wahrgenommen wird. In Russland siegen die Kommunisten und errichten eine Sowjetrepublik, in der Kirche und Staat getrennt werden. Die Christen werden grausam