Bildungs- und Wirtschaftsürger
Das Bürgertum besteht im Europa des 19. Jh. aus dem reichen Wirtschafts- und dem einflussreichen Bildungsbürgertum. Das Wirtschaftsbürgertum wird oftmals auch als Großbürgertum bezeichnet, die Bildungsbürger bilden die bürgerliche Mittelschicht; beide zusammen machen etwa 5 % der europäischen Bevölkerung aus. Einflussreich sind die Reichen besonders in Großbritannien (1 % Großbürger um 1850, am Ende des Jahrhunderts 2 %), in Deutschland nimmt ihre Bedeutung erst im letzten Viertel des Jahrhunderts zu (1 % der Bevölkerung). Seit Mitte des Jahrhunderts beginnen sich Wirtschaftsbürger und Adel in Großbritannien zu durchdringen, es bildet sich die Gruppe der „gentlemen“. In Deutschland liegt das Jahreseinkommen der reichen Wirtschaftsbürger am Ende des Jahrhunderts bei über 12.000 Mark (rd. 110.000 Euro), der bürgerlichen Mittelschicht bei 3.000 bis 12.000 Mark (27.000 bis 110.000 Euro).
Das deutsche Bildungsbürgertum tritt meist in die Laufbahn in Bürokratie, Universität, Schule und Medizin ein. Die großen Reformen zu Beginn des 19. Jh. werden von ihnen durchdacht und umgesetzt. Um die Mitte des Jahrhunderts kommen freie akademische Berufe hinzu. Bildung hat elementare Bedeutung für diese Bürger, für viele ersetzt sie Religion und übernimmt eine entsprechende Ersatzfunktion. Namentlich Wilhelm von Humboldt (1767-1835) fordert das Ziel der Allgemeinbildung, durch das alle Anlagen des Menschen möglichst umfassend herausgebildet werden. Dabei misst er der sprachlichen und künstlerischen Bildung besondere Bedeutung zu, wie sie an den Gymnasien vermittelt werden. An den Universitäten sollen Forschung und Lehrer zusammen verfolgt werden, wodurch die deutschen Universitäten ihre herausragende Rolle in der Welt spielen.
Das Wirtschaftsbürgertum entsteht in Mitteleuropa später als in England, Frankreich und den Niederlanden. Aber seit dem zweiten Drittel des 19. Jh. nimmt seine Bedeutung mit der Industrialisierung rasch zu. Bald schließen die Wirtschaftsbürger auch zu den Bildungsbürgern auf, ihre Söhne besuchen Gymnasien und studieren häufig. Viele sind frühe global player und networker. Rasch bauen sie Interessenverbände auf, wodurch die Unternehmen ihre Arbeit koordinieren und abstimmen. An Einfluss gewinnen sie den Bildungsbürgern rasch Räume ab.
Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum verstehen sich als die Träger der bürgerlichen Gesellschaft, die sich durch Leistung definiert. Dahinter steht zunächst eine anti-adlige Haltung, die geburtsständische Ordnung erscheint ihnen überholt, die kirchliche Deutung der Welt wird seit Kants Definition von Aufklärung als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Für die Bürger sind Vernunft, Individualität und Humanität die tragenden Säulen der neuen Gesellschaft, ihre Tugenden sind Fleiß, Pflicht, Sorgfalt und Zuverlässigkeit.
Familie und Ehe
Neben dem aktiven Leben im Beruf ist die bürgerliche Familie Rückzugsraum und Ort der Selbstinszenierung gleichzeitig. Durch die erfolgreiche Arbeit des Mannes werden Ehefrau und Kinder von Erwerbstätigkeit freigestellt; ein Dienstmädchen übernimmt die Hausarbeit, die Kinder werden erzogen und gehen zur Schule. Als Arbeits- und Familienleben für die Bürger auseinander tritt, erleben gerade Frauen einen erheblichen Funktionsverlust; aus der Erwerbsleben werden sie in die Erholungssphäre verbannt. So entsteht eine neue Rollenverteilung der Geschlechter: Bürgerfrauen schreibt man die Attribute bewahrend, passiv, anpassungsbereit, emotional, emsig und bescheiden zu, Bürgermänner werden als aktiv, selbständig, tapfer, vernünftig, energisch, zukunftsorientiert und weitblickend beschrieben. Diese Sicht lässt den Bürgermann sofort als Familienoberhaupt erkennen.
Die bürgerlichen Ehen sollen auf Liebe gründen und nicht mehr politischen oder dynastischen Zwecken. Die romantische Liebe begleitet den Aufstieg der Bürger. In der Praxis spielen die Eltern bei der Eheschließung jedoch eine erhebliche Rolle, finanzielle Situation und berufliche Position lassen die Liebe doch zugunsten der „Vernunft“ zurücktreten. Im Wirtschaftsbürgertum spielen Heiraten zwischen den Unternehmerfamilien eine bedeutende Rolle. Vielleicht ist es die Kompensation dieses Verlustes, der zur ideellen Aufwertung der Familie führt. Bis zur Jahrhundertmitte haben die Familien fünf bis sieben Kinder, im Kaiserreich werden zwei bis vier Kinder üblich.
Seit dem 18. Jh. werden die bürgerlichen Kinder in ihrer besonderen Lebenssituation geradezu entdeckt und gepflegt. Es entsteht eine Spielzeugindustrie, die Kinder- und Jugendliteratur wächst stark und dient der Vorbereitung der Geschlechter auf ihre künftigen Rollen in Arbeit und Beruf!
Vereine
Neben der Familie ist das Vereinswesen der andere bürgerliche Ort, in dem die Bürger ihre Kultur pflegen: Lesegesellschaften, Musik- und Kunstvereine, Natur-, Turn- und Nationalverein, Schiller- und Shakespearegesellschaften bieten den Bürgern die nötige Öffentlichkeit, an der sich Gleichgesinnte und Gleichgestellte treffen. Die Aktivitäten sind allerdings berufstätigen Männern vorbehalten, Frauen, Schüler und Lehrlingen dürfen Versammlungen der Vereine nicht beiwohnen. Auch den Juden wird es erst allmählich erlaubt, den Vereinen beizutreten. Als 1869 innerhalb des norddeutschen Bundes alle religiös motivierten Einschränkungen aufgehoben werden, haben sich die jüdischen Bürger allerdings bereits weitgehend assimiliert und der bürgerlichen Kultur angepasst.
Die Welt der Kunst ist für die Bürger nicht nur eine Gegenwelt zum Arbeitsalltag, in der man sich erholen und entspannen kann. Sie dient vielmehr der Präsentation der bürgerlichen Kultur, indem man umfassende Bibliotheken selbst vorhält oder öffentliche Bibliotheken unterstützt. Die Beherrschung eines Zitatenschatzes ist ein „muss“, dem entsprechende Bücher ihren großen Erfolg verdanken. Dazu sind Konzerte und Opern öffentliche Präsentationsformen der Bürgerlichkeit, dem im privaten Bereich die Hausmusik entspricht; dem Klavier kommen dabei enorme Bedeutung zu, kann man doch komplexe Werke mit wenig Aufwand aufführen. Als Möbelstück zeigt es allein durch sein Vorhandensein die Zugehörigkeit der Besitzer zum Bildungsbürgertum. Namentlich Frauen sollen das Instrument beherrschen. Schließlich gilt auch der bürgerliche Kunstverstand als typisch für diese Gesellschaftsschicht; dafür ist man Mitglied im Kunstverein, der regelmäßig Ausstellungen organisiert, Museen stiftet und auch Künstler unterstützt. Darüber hinaus nimmt europaweit das Zeitschriftenwesen einen enormen Aufschwung.
Kirche
Während die Welt der Kunst und des Vereins geradezu das bürgerliche Lebensgefühl repräsentiert, nimmt die Kirchenbindung vieler Bürger im Verlauf des 19. Jh. ab, die Kirchen leeren sich, was besonders im abnehmendem Besuch des Abendmahls durch bürgerliche Männer angeht. Andererseits finden viele Bürger auch ihren Weg in die kirchlichen Vereine, engagieren sich in der Inneren Mission, in der Caritas, im Evangelischen Bund und für die Weltmission u. ä. Die Pfarrer gehören zum Bildungsbürgertum und gelten oft für viele mit ihrer Familie als Idealbild gelebter Bürgerlichkeit.
Während die Männer andere Betätigungsfelder suchen und finden, wird die Religion zur Domäne der bürgerlichen Frauen. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Verlagerung religiöser Praxis in die Familie. Weihnachtsfest, Taufen, Konfirmation und Hochzeiten werden als kirchliche Feiern nun vor allem als private Familienfeier begangen, der kirchliche Ritus hat dafür nur den Ausgangspunkt gegeben. In die Gottesdienste gehen vor allem die Bürgerfrauen mit den Kindern, wo diese insbesondere die grundlegenden Werte vermittelt bekommen sollen. So werden die bürgerlichen Frauen zur Bewahrerinnen religiöser Tradition, während sich die Männer aus dem religiösen Raum oft zurückziehen. Die Folge für die Kirchen ist die Feminisierung der Religion. Zunehmend eröffnet die Kirche Frauen einen öffentlichen Raum, den sie sonst in der Gesellschaft nicht finden.
Bürger und Adlige
Bilden die Bürger anfangs ihre Werte gegen die Welt des Adels, so ändern sich die Verhältnisse am Ende des 19. Jh. In Großbritannien vermischen sich Adel und Großbürger zunehmend. Aber auch in Deutschland sind ähnliche Tendenzen feststellbar, so heiraten etwas mehr als 25 % der Kinder reicher Bürger in Adelsfamilien ein; dazu steigt die Zahl der Nobilitierungen seit 1860 (ca. 1000 bis 1918 – also 16 pro Jahr). Doch nicht alle Bürger haben die Erhebung in den Adelsstand angenommen, für viele ist der Titel eines Kommerzienrates attraktiver, da er sowohl die herausragende Stellung als auch auf das vorausgesetze Vermögen hinweist (kurz nach der Jahrhundertwende sind 300.000 Taler erforderlich, später 500.000 Taler, also 900.000 bzw. 1.500.000 Mark). Im Kaiserreich erstreben viele Bürgerliche eine militärische Karriere als Reserveoffizier, was eine Imagesteigerung im Alltag bedeutet hat. (Gerhart Hauptmann zeigt die hohe Wertschätzung des Militärs im Alltag in seinem „Hauptmann von Köpenick“ mehr als eindrücklich.)
Bürger und Arbeiter
Gegenüber den Unterschichten setzen sich die Bürger deutlich und konsequent ab; Arbeiter gelten als unzivilisiert und ungebildet. Die Unternehmer sehen sich wie Alfred Krupp (1812-882) als Patriarchen, die in ihrer Villa auf dem Unternehmengelände wohnen und wie einst die Großgrundbesitzer für ihre Leute da sind (Bau von Werkswohnungen, Läden, Krankenhäusern, Kindergärten und Sportstätten).
Viele Bürgerliche gründen Arbeiterbildungsvereine, um den Unterschichten die bürgerlichen Werte nahezubringen (Strebsamkeit, Disziplin, Fleiß). Später entstehen Spar-, Kranken- und Unterstützungskassen. Daneben nimmt die Zahl der Angestellten bis zum Ende des Jahrhunderts zu, 2,4 % rechnet man den Angestellten zu, in den Verwaltungen der Betriebe kontrollieren, koordinieren, berechnen und planen. Rasch erhalten sie einen Sonderstatus (Gehalt statt Lohn, kürzere Arbeitszeiten, Urlaub), dafür wird ihre Treue zum Unternehmer erwartet. Um die Jahrhundertwende strömen auch zunehmend Frauen in die Verwaltungen, sie sollen kopieren, registrieren und Post ablegen. Frauen gelangen so – oft unter Protest der männlichen Kollegen – in die unteren Stellungen in den Unternehmen. Langsam entsteht so ein neues Frauenbild.