Anlage, Umwelt, aktive Selbstgestaltung
Unser Wissen über uns selbst ist nicht einfach da, es baut sich im Laufe unseres Lebens auf. Daran wirken wir aktiv mit, indem wir nach Informationen für unser Selbstbild suchen, Schlussfolgerungen ziehen und diese in unser Selbstbild integrieren. Deshalb kann man von Konstruktion sprechen. Anhaltspunkte dafür entstammen unseren Erb-Anlagen (Genom) und unserer Sozialisation (Umwelt), aber wir sind dabei nicht nur passive Empfänger, sondern auch Gestalter: alle drei Aspekte greifen ineinander.
Wir erben bestimmte Anlagen von unseren Eltern mitbekommen (Vererbung), das zeigt sich am Aussehen, am Verhalten und auch an Begabungen: Wir erben vielleicht die Musikalität unseres Vater oder die Sprachbegabung unserer Mutter. Auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie sie im Modell „Big Five“ beschrieben sind (also das Maß an Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Verträglichkeit und Labilität), werden vermutlich oftmals vererbt. Unsere Anlagen bestimmen unser Leben mit, aber die Anlagen sind auch nicht unser Schicksal, bewusste Förderung kann vieles ausgleichen und manches kompensieren. Unsere Anlagen bestimmen uns nicht allein.
Das beginnt schon damit, wenn unsere Eltern oder Erzieherinnen unsere Talente erkennen und fördern. Wissbegierige Kinder erhalten Wissensangebote, sportliche Kinder erhalten Gelegenheit zur sportlichen Betätigung. Unsere Anlagen treffen auf Reaktionen unserer Umwelt.
Heute werden geradezu alle Anlagen gefördert und unterstützt. Früher förderten Eltern nur solche Anlagen, die ihnen nützlich erschienen und die für das Überleben der Familie von Bedeutung erschienen. Gerade künstlerische Anlagen fanden nicht immer die nötige Unterstützung. Aber vielleicht haben die Eltern auch Anlagen übersehen und sind nicht darauf eingegangen. Im Verlauf der späteren Entwicklung finden diese Anlagen dann doch Resonanz in der Umwelt. So können die Eltern unternehmerische Merkmale ihrer Tochter übersehen haben, weil sie im Kontext der Familie nicht passend schienen. Später können sich die Anlagen im Verlauf der beruflichen Karriere aber besser zeigen und ausbilden.
Wir verdanken uns also auch unserer Umwelt. Schon bei Pflanzen können wir beobachten, wie sie sich bei gleichen Erbanlagen in unterschiedlicher Umwelt ganz verschieden entwickeln: Das richtige Licht, die notwendigen Nährstoffe im Boden, eine ausreichende Bewässerung führen zu einer optimalen Entwicklung. Dies gilt natürlich auch für die körperliche Entwicklung von Menschen. Viele Menschen mit Hungererfahrungen in ihrer Kindheit haben ein ganz anderes Verhältnis zu Lebensmitteln als Menschen ohne solche traumatischen Erlebnisse.
Die Gemeinschaft, in der wir uns bewegen, hat erhebliche Bedeutung. So kann eine gute Klassengemeinschaft den einzelnen fördern, sie kann ihn aber auch in extremen Fällen durch Mobbing in seiner Entwicklung hemmen. Ähnlich setzen sich Jugendliche mit den Erwartungen der Dorfgemeinschaft oder des städtischen Lebensumfeldes, aber auch mit der christlichen Gemeinde auseinander.
Neben diesen gegebenen Gemeinschaften darf der Einfluss von solchen Gemeinschaften nicht vergessen werden, denen man sich freiwillig anschließt, das kann etwa der Sportverein oder eine Jugendgruppe sein, etwa die Jugendgruppe einer Gemeinde. Das ist auch unsere Erfahrung am MBS: Bei der Identitätsfindung der Studierenden am MBS spielen nicht nur die Lehrenden eine wichtige Rolle. Gerade die Gemeinschaft der Studierenden in all den verschiedenen Lebensbezügen an unserer Ausbildungsstätte unterstützt den Identitätsfindungsprozess nachhaltig, soweit das jede und jeder zulässt.
Neben den unmittelbaren Bezugsgruppen spielt darüber hinaus die weitere Gesellschaft eine Rolle. Während früher vermutlich die Anpassung an Traditionen der eigenen Familie, des Dorfes, der Nation oder der Kultur die Möglichkeiten der „Selbstgestaltung“ eher eingeengt hat, hat sich diese Selbstverständlichkeit heute fast ganz verloren. Die gewonnene Freiheit der Wahl bringt nun auch die Notwendigkeit mit sich, sich für diese oder jene Orientierung zu entscheiden. Verstärkt wird die Herausforderung von der Werteunsicherheit unserer modernen Gesellschaft: Da alles möglich erscheint, erscheint nun auch alles möglich.
Für die Ausbildung eigener Identität spielen auch die Geschichten eine Rolle, die die Eltern und Nachbarn ihren Kindern aus ihrem Leben erzählen und die wir hören wollen: So bleiben Erinnerungen präsent, werden später als Teil der eigenen Lebensgeschichte erinnert.
Zum Nachdenken:
Wo findest Du bei Dir das Erbe Deiner Eltern und Großeltern? Welche Anlagen kannst Du leicht auf deinen Vater, Deine Mutter zuordnen, wo fällt es Dir schwerer?
Hast du Dich von Deinem Erbe abgegrenzt? Warum?
Wo hat Dich Deine Umwelt geprägt? Was hast Du von Deinen Freunden übernommen? Welche Vorbilder spielen für Dich eine Rolle?
Hast Du dich von Deiner Umwelt abgegrenzt? Warum?
Fragen zum Weiterdenken
Wir werden aber nicht einfach durch unsere Umwelt bestimmt. Vielmehr wirken wir selbst aktiv mit, indem wir aus den vorhandenen Angeboten vor allem solche auswählen, die unseren Anlagen oder unserem Selbstbild entsprechen. Im Verlauf unseres Lebens entscheiden wir uns bewusst für Erwartungen der anderen, das ist zunächst die Familie. Ist die etwa begeistert von einem bestimmten Sportverein oder einer politischen Partei, kann das anstecken und übernommen werden. Heranwachsende können aber auch ganz eigene Akzente – mitunter in bewusster Abgrenzung von den Eltern – setzen. Ähnlich ist es bei der religiösen Sozialisation, Jugendliche können einen eigenen Weg gehen und sich gegen die Gottesdienstbesuche der Eltern entscheiden. Sie können aber auch bewusst einen religiösen Weg wählen.
Zur Vertiefung: Martin Luther
Luthers Vater entstammt einer wohlhabenden bäuerlichen Familie in Möhra/Thüringen. Die Luders betreiben neben ihrem Bauernhof einen (kleinen) Kupferhammer, das weitet den Blick von Hans Luder für die beginnende industrielle Revolution seiner Zeit. Luder entscheidet sich für einen eigentlich familienfremden Beruf als Bergarbeiter. Da die Qualität des Kupfers in der Umgebung von Möhra schlecht ist, zieht mit seiner Familie erst nach Eisenach und später in das frühindustriell florierende Mansfeld. Hätte er diesen beruflichen Schritt nicht gewagt, hätte er wohlmöglich als Knecht auf dem Bauernhof seines Bruders arbeiten müssen. So wagt er für den damalige Zeit revolutionären Schritt, der ihn nicht nur aus der Heimat in die Fremde, sondern aus dem bäuerlichen ins frühbürgerlich-industrielle Milieu versetzt. Hans Luder zeigt also neben seinen handwerklich-technischen Interessen auch moderne unternehmerische Züge.
1479 heiratet er Margarethe Lindemann aus Eisenach, die aus einer gehobenen Handwerker- und Kaufmannsfamilie stammt. Die Lindemanns sind in der Montanindustrie in Mansfeld engagiert, die Brüder von Margarethe haben Jura studiert. Schon damals bietet dieses Studium die Grundlage für einen weiteren sozialen Aufstieg: Die Arbeit als juristisch ausgebildeter Rat für einen Landesherren, eine Stadt oder auch ein großes Unternehmen bieten gesellschaftlichen Einfluss, den Bürger damals sonst kaum haben. Luders Welt wird so noch einmal größer und weiter, er lernt den Wert von Bildung kennen.
Hans Luder arbeitet sich schnell zum Unternehmer hoch, von Beginn an kann er die Pacht für ein Hüttenfeuer aufbringen. Die Familien werden ihn entsprechend unterstützt haben. So kann er seinem Sohn Martin eine schulische Bildung ermöglichen. Das kostet damals erhebliche finanzielle Mittel, auch entzieht es dem Familienunternehmen eine vorhandene Arbeitskraft. So etwas muss man wollen und entscheiden.
Die Eltern haben vielleicht Martins Wissensdurst und Bildungshunger wahrgenommen und gefördert. Der Vater plant für Martin eine Bildungskarriere als Jurist nach dem Vorbild seiner Schwäger. Vermutlich hat er dabei auch an sein Unternehmen gedacht, das eine gute juristische Unterstützung benötigt. Martin hat sich dieser Bestimmung nicht versagt und auf den Weg eingelassen. Vielleicht hat er wenig Freude an körperlicher Arbeit gehabt.
Martin erscheint als religiöser Mensch. Als er auf einer Reise in ein Gewitter gerät, ruft er die heilige Anna (die Schutzpatronin der Bergleute) an und verspricht, ein Leben als Mönch zu führen. Offenbar wird die Schutzheilige der Bergleute bereits im Elternhaus verehrt, was der künftige Reformator von seiner familiären Umwelt übernommen hat. Heute nehmen wir an, dass ihn der Lebensstil der Mönche schon vorher beschäftigt hat. Als Luther ins Kloster eintritt, entzieht er sich den Vorstellungen seiner Eltern, er geht einen eigenen Weg. Wie sich der Vater den Erwartungen seiner bäuerlichen Umwelt entzieht und als Bergmann arbeitet, so entzieht sich Martin dem unternehmerischen Kalkül seines Vaters und dessen Karrierevorstellungen und wird Mönch. Darüber hat sich der Vater empört und er hat versucht, seinen Sohn davon abzubringen.
Diese Zeit ist geprägt von großen Epidemien mit zahllosen Opfern, alle fürchten den plötzlichen Tod an einer Seuche. Die kirchliche Verkündigung propagiert einen strengen und richtenden Gott, der die Menschen mit grausamsten Höllenstrafen bestraft. Die Lebenserwartung ist kurz, die Angst vor dem Gericht mächtig. An dieser Angst leidet auch Martin Luder und er stellt sich die Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Deshalb tritt er in ein Kloster ein und wird Mönch. Die zeitgenössische Kirche zeigt allen, die es mit Gott ernst meinen, diesen Weg als Mönch als einzig erstrebenswerten auf. Der Verzicht auf Eigentum, Ehe und Selbstbestimmung erscheint der sichere Weg zu Gott und in den Himmel.
Weil Luder bereits die Anfänge einer akademischen Bildung absolviert hat, lässt ihn sein Orden Theologie studieren. Bald zeichnet sich eine Karriere als Theologieprofessor an der neuen Universität in Wittenberg ab. Die Entscheidung zum Studium hatte erst der Vater gefällt, der Orden lässt ihn nun statt Jura Theologie studieren. Und Martin lässt sich offenbar gerne darauf ein, denn so kann er weiter seinen religiösen Fragen nachgehen.
Aber auch wenn sich Luder ganz auf diesen Weg einlässt, befriedigt ihn die Antwort seiner zeitgenössischen Umwelt nicht. Er spürt: Ich lebe noch immer am Willen Gottes vorbei. Ich bleibe auch als Mönch trotz aller guten Werke ein Sünder und Versager.Das treibt den Mönch Luder zur Verzweiflung. Endlich entdeckt er, dass Gott uns aus Gnaden gerecht spricht, dass die Gerechtigkeit Gottes keine Forderung an uns darstellt, sondern Gottes großartiges Geschenk an seine Kinder ist.
Luthers Rückblick auf seine Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes (1545)
Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennen zu lernen, aber … ein einziges Wort (hatte) im Wege gestanden…“ Gerechtigkeit Gottes“ [Röm. 1,17]… Ich hatte nämlich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“ zu hassen gelernt, das ich nach dem allgemeinen Wortgebrauch … aktive Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, … nach der Gott die Sünder und die Ungerechten straft.
Ich aber, der ich trotz meines untadeligen Lebens als Mönch, mich vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen fühlte und auch nicht darauf vertrauen konnte, ich sei … mit Gott versöhnt: ich liebte nicht, ja, ich hasste diesen gerechten Gott, der Sünder straft… Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht [Hab. 2,4], ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘.“ Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, dass der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, dass dies der Sinn ist…, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“.
Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte sich mir sogleich die ganze Schrift von einer anderen Seite. Von daher durchlief ich die Schrift, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und las auch in anderen Ausdrücken die gleiche Struktur , wie: “das Werk Gottes“, d. h. was Gott in uns wirkt, „die Kraft Gottes“, mit der er uns kräftig macht… Nun, mit wie viel Hass ich früher das Wort „Gerechtigkeit Gottes“ gehasst hatte, mit um so größerer Liebe pries ich dieses Wort als das für mich süßeste; so sehr war mir diese Paulusstelle wirklich die Pforte zum Paradies. (Quelle: Weimarer Ausgabe 54, 185,12 186,24)
Diese neue Freiheit veranlasst Martin, seinen Familiennamen von Luder auf Luther zu verändern: In der neuen Schreibweise klingt das griechische Adjektiv eleutheros (frei) an. Fortan veröffentlicht Luther unermüdlich seine Einsichten. Er disputiert mit Kollegen und stellt die traditionelle Ablasslehre der Kirche in Frage: Niemand kann durch Geld oder Werke sein Seelenheil verdienen! In seinem Eifer gerät er zunehmend in Konflikte mit einer Kirche, die zunächst für Reformen nicht bereit ist. Diese Auseinandersetzung entzündet sich auch an der Frage, ob die traditionelle Sicht der theologischen Lehrer von der neuen Sicht eines Einzelnen in Frage gestellt werden kann. Auf dem Wormser Reichstag stellt Luther fest, dass er sich an sein Gewissen gebunden weiß und er nur seine Lehren zurücknimmt, wenn er durch Vernunftgründe oder die Heilige Schrift widerlegt werde.
Damit läutet er eine neue Zeit ein.
Literatur
Wolfgang Schneider und Ulman Lindenberger 2018: Entwicklungspsychologie. 8. überarb. Aufl. Weinheim: Beltz