Im Oktober 1517 veröffentlicht der deutsche Mönch Martin Luther (1483-1546) 95 Thesen über den Ablass: Damals verkaufen Ablasskommissare den Erlass zeitlicher Sündenstrafen auf den Marktplätzen. Oft genug verwechseln die Käufer Sündenstrafe mit Vergebung. Mit dem Ablass werden riesige Geldmengen bewegt, von denen viele profitieren: ein Bischof trägt seine Schulden beim Bankhaus Fugger ab, die er für die Ernennung seines Amtes beim Papst zahlen musste. Der Papst kann so eine prächtige Kirche bauen, Ablassprediger des Dominikanerordens verdienen nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern bringen ihrem Orden viel Geld ein. Die Banken lassen sich die Transaktion des Geldes gut bezahlen. Manchen Landesherren ist dieser Handel ein Dorn im Auge, weil die Wallfahrtsstätten in ihren Herrschaftsgebieten nicht mehr besucht werden und dort „Spenden“ zum Erliegen kommen. Sie beklagen auch den Abfluss des Geldes, das für die Binnenkonjunktur nicht zur Verfügung steht.
Theologieprofessor Luther stellt den Ablass noch nicht grundsätzlich in Frage, empfiehlt aber als Alternative die Buße als Lebenshaltung, die erste These lautet: „Wenn unser Herr und Heiland spricht: ‚Tut Buße usw.‘, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“
Noch durchschaut Luther nicht die strategische Finanzpolitik der Ablassaktion. Er legt eine akademische Frage vor, noch ahnt er nicht, dass er die Autorität des Papstes in Frage stellt. Im Rückblick sieht er sich 1517 als „Papist“. Seine Thesen werden aber zum Startzeichen der Veränderung: Seine Thesen verbreiten sich in Windeseile und lösen hitzige Diskussionen aus. Gegengutachten werden veröffentlicht, in Rom beginnt ein Ketzerprozess.
Bald mündet der Streit um den Ablass in die Forderung nach einer Reform der Kirche. Immer mehr dreht sich in der Kirche alles um Geld. Für Ämter kassiert der Papst stattliche Beträge, durch den Ablasshandel fließen große Summen nach Rom. Während dort in Saus und Braus gelebt wird und prächtige Gebäude entstehen, verschulden sich Bistümer in Deutschland auf viele Jahre. Kann man einer Kirche vertrauen, bei der sich scheinbar alles um Geld dreht? Vermittelt sie das Heil?
Durch den Buchdruck werden Thesen und Gegenthesen schnell und weit verbreitet. Es entsteht erstmals so etwas wie eine literarische Öffentlichkeit. Luther erweist sich als begnadeter Publizist: Sind die Ablassthesen noch in Latein verfasst, schreibt er bald Deutsch und hält mit seinen umwälzenden Ideen und seiner Sprachgewalt den deutschsprachigen Teil Europas in Atem. Aus einer akademischen Frage wird eine volkstümliche Auseinandersetzung. Luthers Anliegen werden zum Medienereignis.
Unterm Strich
Mit vielen anderen Historikern (Schilling 2017: Luther S. 160 ff.) nehme ich an, dass der Luther des Thesenanschlags noch nicht zu seiner eigentlichen reformatorischen Entdeckung gekommen ist. Seine Thesen sollen eine akademische Klärung herbeiführen, sind aber wie ein erster Dominostein, der einen unumkehrbaren Prozess anstößt. Die Kirche verurteilt ihn als Ketzer, sein Landesherr und andere stellen sich vor ihn und Luther selbst entwickelt sich zum Reformator.
Der Streit um den Ablass leitet die Reformation ein, die reformatorische Entdeckung Luthers dürfte im März 2018 stattgefunden haben und findet sich seitdem in Briefen Predigten und Schriften Luthers.