In den letzten Tagen konnten wir im TV eine Menge Filme über die letzten Tage des 2. Weltkrieges sehen. Gestern Abend lief noch einmal „Der Untergang“ von Oliver Hirschbiegel (Regie) und Bernd Eichinger (Produktion). Eine deutsch-österreichisch-Italienisch-russische Koproduktion. Für mich ist es der beste Film zum Kriegsende, schauerlich, bizarr, kriminell, liebenswürdig. Wie ist so etwas möglich?

Der Tag der bedingungslosen Kapitulation wurde zunächst vor allem als Niederlage begangen. Noch lange stand der Weltkrieg im Vordergrund, erst 20 Jahre danach setzte man sich mit den Verbrechen stärker auseinander. Als Bundeskanzler Brandt 1970 zum 25. Jahrestag eine Regierungserklärung abgab, wollte die Opposition das verhindern, weil man Niederlagen nicht feiere. !985 hat dann Bundespräsident von Weizsäcker seine berühmte Rede zum Jahrestag gehalten und vom „Tag der Befreiung“ geredet. Das hat Diskussionen ausgelöst.

War es der „Tag der Befreiung“? Was sonst? All die Verbrechen an Kriegsgefangenen, Sinti und Roma, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden und vor allem an Juden fanden ihr Ende, als amerikanische, britische und russische Truppen die Konzentrations- und Vernichtungslager befreiten, als die letzten deutschen Truppen in den besetzten Gebieten ihre Waffen abgeben mussten, als die deutschen U-Boote auftauchten und keine Gefahr mehr für die internationale Schifffahrt darstellten, als deutsche Behörden wie Gestapo, Polizei, Sicherheitsdienst ihre Macht abgeben mussten. Es war ein Tag der Befreiung, erst der Unterdrückten, dann auch der Deutschen, die angesichts der Niederlage und der Konfrontation mit den Verbrechen einen Neuanfang geschenkt bekamen. 

Auch wenn die Siegermächte in ihren Besatzungszonen sehr unterschiedlich ihre Macht ausübten: Sehr früh begannen sie, auf die Deutschen zuzugehen und sie in ihre Bündnisse zu integrieren. Sehr rasch arbeiteten alle Sieger an der Verständigung mit den Deutschen.

Die Deutschen flüchteten sich in Unwissenheit. Man habe ja all das Schlimme nicht gewusst. Dass die Juden in den 30er Jahren verschwanden, hatte man nicht mitbekommen? Dass Kommunisten und Sozialdemokraten nach 1933 eingesperrt wurden, hatte man nicht mitbekommen? Dass deutsche Truppen die Grenzen zu Polen, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien, Griechenland, Ukraine, Weissrussland, Russland überschritten hatten, hat man nicht mitbekommen? Dass Kriegsgefangene aus den besetzten Ländern in Deutschland als Arbeitssklaven für Bauern und Industrie eingesetzt wurden, hatte man nicht mitbekommen? Dass in der Nähe jeder deutschen Stadt Konzentrationslager eingerichtet wurden, hatte man nicht mitbekommen? Wir wussten das nicht, ein Volk von Dichtern – sie erzählten sich ihre eigene Geschichte vom Opfer! 

Von da ist es nicht weit zur Unschuld: Mit den Verbrechen habe man nichts zu tun gehabt. Die Kriegsverbrecher waren in Nürnberg bestraft worden, deren Schuld war international festgestellt, die hatten befohlen, die anderen waren gefolgt. („Führer befiehl, wir folgen!“) Nun war die Kultur des Parieren zu Ende. Was soll man dazu sagen? Die aktiven und passiven Unterstützer des NS-Terrors mussten und müssen sich mit ihrer Rolle auseinandersetzen. Sie bestimmen die Politik von heute sicher nicht mehr mit. Ihre Kinder haben sich 1968 vehement von ihnen abgesetzt und Deutschland eine neue Richtung gegeben.

Wie sieht es mit unserer Verantwortung aus? Viele sehen das wie Helmut Kohl (1930 geboren), er sprach 1983 von der „Gnade der späten Geburt“: Er habe keine Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands, war er doch 1945 erst 15 Jahre alt. Man hat den Deutschen diese Verantwortung nicht abgenommen, zu viele Erinnerungen schmerzen auch heute noch Menschen in aller Welt. 

Ich bin 12 Jahre nach dem Kriegende geboren, erlebte die letzte Phase des Wirtschaftswunders noch mit. Unser Gartenzaun war „Zonengrenze“ zur „DDR“, von „Vopos“, deutschem Zoll (!) und dem „BGS“ streng bewacht. Alte Bindungen zertrennt – als es Anfang der 1960er Jahre hinter der Grenze in Großburschla brannte, eilten die Feuerwehren aus den hessischen Grenzdörfern herbei, um wie vor 1945 zu helfen. Aber gepanzerte Fahrzeuge der Grenztruppen fuhren an der Grenze auf, wenig später rückte der BGS mit Panzerspähwagen an. Nach diesem Zwischenfall wurde die Straße zwischen dem thüringischen und hessischen Dorf unterbrochen und eine Barrikade errichtet. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Diesen Satz sagte mein Vater oft, wenn er über das Ende des Krieges berichtete. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Als die Amerikaner sein Heimatdorf mit unzähligen Panzern besetzten und allen klarmachten, wie die Sieger aussehen, entstand sein Bild von den „Amis“. Als die Russen mit Pferdefuhrwerken und auf Fahrrädern anrückten, um das thüringische Grenzdorf zu besetzen, entstand sein Bild einer Wehrmacht, die sich vor diesen Truppen geschlagen geben musste. Als die vielen Flüchtlinge kamen, wuchs das Dorf von einem auf den anderen Tag um ein Drittel seiner Einwohner.Ein Schulfreund meines Vaters berichtete später meine Mutter, dass er zeitweise von den Pausenbroten meines Vaters lebte. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Niederlage, Hunger, Teilung.

Mein Vater lernte etwas aus der Nazizeit: Er trat in die SPD ein und wurde in seinem Dorf politisch aktiv. SPD stand damals für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden, typisch für die Moderne (https://klausmeiss.de/19-20jh/). Täglich wurden bei uns Nachrichten geschaut, am Wochenende liefen „Wochenspiegel“ (Zusammenfassung der Hauptnachrichten der Woche) und der „Internationale Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern“. Er wurde ein politischer Mensch und ließ mich diese Sendungen mitschauen, das hat mein politisches Bewusstsein sehr geprägt. Die politischen Sendungen waren immer pro westlich, aber die andere Seite kam auch zu Wort.

Mit seinen Geschwistern führte mein Vater heftige politische Diskussionen, bei den Konservativen trat er für soziale Gerechtigkeit ein, bei den liberal-sozialistischen für die Demokratie. Er hat was gelernt und sucht heute noch den Austausch über politische Themen. Unsere Generation ist zu Demokraten geworden, tritt für Frieden, Flüchtlinge und Umweltschutz ein. Weil wir befreit worden sind…