Auch der soziologische Begriff des Habitus im Anschluss an Norbert Elias und Pierre Bourdieu kann helfen, Autoritätsbeziehungen zu verstehen (Künkler 2011: 374ff.). Grob gesagt versteht man unter Habitus typische Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln von Gruppen, die Kinder im Alltag erlernen. Sie saugen gleichsam die Impulse aus ihrer Umgebung auf und eignen sie sich an, sie bilden ihren Geschmack und ihre Weltanschauung, ihre Art zu denken, sich zu verhalten. Ihr soziales Umfeld tritt hier gleichsam als Autorität auf, der sie sich „unterwerfen“, ohne es zunächst zu merken.
Ähnlich erscheint das situative Lernen, bei dem Menschen gleichsam informell zu verschiedenen „communitys of practice“ gehören: Durch das gemeinsame Vorhaben und Tun sowie das geteilte Wissen wirken Menschen zusammen, bilden eine mitunter konfliktreiche, mitunter harmonische Gemeinschaft.
Menschen entwickeln sich in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Sprache, Spiel und Wettkampf helfen Kindern in ihr Umfeld hinein, sie lernen sich Erwartungen anzupassen (vgl. die aufschlussreichen Ausführungen über Mead und Wygotzki bei Künkler 2011: 415ff.). Die Bindungsforschung (John Bowlby, Mary Ainsworth) und die Soziogenese (Michael Tomasello) zeigen die große Bedeutung der Bezugspersonen in der frühen Kindheit, die sich dann bis zur Jugendzeit und darüber hinaus fortsetzen, wenn sie nachahmen, unterrichtet werden und durch Zusammenarbeit lernen.
„Das Lernsubjekt erlernt sich, weder ist es einfach, noch entwickelt es sich selbst, sondern es entsteht allererst von Anderen her, es erlernt sich an, über und durch Andere“ (Künkler 2011: 449). Letztlich verdanken sich Menschen also den Anderen, sie lernen von ihnen zu leben, aber auch ihre Gedanken über sich selbst und die Welt. Aber Menschen sind auch nicht einfach das Produkt der Anderen, sondern sie werden in allen Beziehungen selbständiger, aber nicht autonom, es bleibt „Selbst-mit-anderen“ (Künkler 2011: 451).
In diesem Zusammenhang erinnern wir uns an Martin Bubers Ich-Du-Philosophie: Zwischen der Perspektive des Ichs und des Kollektives gibt es ein dialogisches Moment! Gerade die Sphäre des Zwischen beschreibt für ihn eine personhafte Beziehung, die durch Gegenseitigkeit, Ausschließlichkeit und Unmittelbarkeit charakterisiert wird. Es geht nicht um Erfahrungen mit etwas, sondern um eine Begegnung. Die Begegnung mit dem Du bezeichnet ein Geschehen im Zwischen, das Ansprechen des Du macht aus dem Ich ein Ich. „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
Für den Prozess des Lernens eröffnet Bubers Perspektive der zweiten Person den Raum des Zwischen – unabhängig vom Objektiven und Subjektiven. Lernen zeigt sich dann als Beziehungsgeschehen im Zwischen, aus dem Ich und Du verändert hervorgehen. Das Du kann ein menschliches sein (Lernen von und durch andere), eine geistige Wesenheit (Lernen in Auseinandersetzung mit einem Inhalt) oder eine gegenständliche Wesenheit (Lernen durch Umgang mit Dingen). Voraussetzung für eine Begegnung ist die Offenheit der Hinwendung und die Bereitschaft, sich ansprechen zu lassen. Im pädagogischen Geschehen passiert also nichts einseitig, Autorität bedeutet nicht nur Herrschaft, sondern Bewahren, Wachstum zulassen und ermöglichen. Zugleich müssen sich die Lernenden darauf einlassen, regelmäßig reflektieren und ihren Weg beschreiten.
„Relationalität und relationale Subjektivität“ beschreiben den ersten Schritt, um den Prozess des Denkens in Relationen zusammenfassend zu bedenken. Wenn wir von anderen her sind, verflochten, bezogen und eingebunden mit anderen sind, dann wird Lernen als Nachahmung (Imitation, Antizipation, Identifikation, Partizipation) fassbar, dem auch ein Begehren zugrunde liegt, vom anderen geliebt und wertgeschätzt, beachtet und akzeptiert zu werden, für andere von Bedeutung zu sein, eine Beziehung zu ihnen zu haben.
Bedeutsam sind sodann die „bedeutsamen anderen“, was ihnen bedeutsam ist, wird – abhängig von der Beziehungskonstellation – gelernt. Dabei geschieht nicht alles bewusst, ja Beziehungen der Vergangenheit (etwa frühkindliche Bindungen!) wirken ebenso wie aktuelle. Lernprozesse werden aber auch strukturiert durch den Wunsch nach Partizipation einer Gemeinschaft. Man lernt stets selbst, jedoch verdankt man, dass man, wie und was man lernt, wesentlich den Anderen. Für die Theorie bedeutet das, dass nicht Individuum oder Kollektiv, sondern die zwischenmenschliche Beziehung zur zentralen Bezugsgröße der Theorie wird, nicht Innen oder Außen, sondern das Zwischen wird analysiert.
Unter dem Gesichtspunkt der „Ausdifferenzierung einer relationalen Lernkonzeption“ werden explizites und implizites sowie transformatives und formatives Lernen unterschieden. Unter „explizitem Lernen“ sollen die spezifischen Praktiken des LerHabituserwerb nen gefasst werden, in denen Wissen und Fähigkeiten vermittelt werden (Lernen von Inhalten, Auswendiglernen, Üben, Trainieren). Neben der Schule zeigt sich dieses etwa Lernen in Vereinen oder der Gesellschaft allgemein. Offen bleibt dabei, ob die Lernziele erreicht werden. Obwohl das explizite Lernen im öffentlichen Diskus eine zentrale Rolle spielt, ist es für das Lernen insgesamt nur ein kleiner Bereich.
Das „implizite Lernen“ wird oft weniger beachtet und findet meist beiläufig statt, ist allerdings viel bedeutsamer für das Lernen insgesamt. Es entsteht als Nebenprodukt aller Praktiken als praktisches Wissen (Gewohnheiten des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens und Handelns). Gerade dadurch ist es für alles praktische Lernen des „wissen wie“ und „wissen was“ wichtig. So werden Gewohnheiten, Denkmuster und das Können erworben. Implizites oder explizites Lernen schließen sich keinesfalls aus, sondern begleiten oft einander.
Unter „formativem Lernen“ wird der Erwerb des Erfahrungshorizonts verstanden, der aus der Erfahrungs-, Lern- und Beziehungsgesichte entsteht. Dazu zählen grundlegende Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata (vgl. Bourdieus Habituserwerb). Diese grundlegenden Haltungen können sich auch verändern, und zwar durch ein transformatives Lernen, in dem es um Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata geht. Wieder stehen sich beide Formen nicht alternativ gegenüber, sondern begleiten einander. Wie das formative Lernen einen neuen Aspekt des Weltbildes hervorbringt, führt es langfristig zum transformativen Umlernen und jedes transformative Lernen baut neue formative Elemente auf.
Praktiken expliziten Lernens sollten relational gedacht werden, die Praktiken werden meist implizit durch Mitahmung erlernt, es sind fast immer kollektive, kulturelle Praktiken. In einer Schule werden Wissen und Fähigkeiten mittels verschiedener Praktiken des Übens, Problemlösens, Zuhörens und Diskutierens vermittelt. Neben den Praktiken werden auch Wissen und Fähigkeiten sozial und kulturell erlernt. Je nach Beziehungsgeschichte und der aktuellen sozialen und leiblichen Situation werden bestimmte Fähigkeiten und bestimmtes Wissen als bedeutsam erachtet oder nicht. Explizites Lernen in der Schule findet im Zwischen statt, nicht nur im Interaktionsgefüge von Lehrenden und Studierenden, sondern auch in anderen Bereiche (Eltern, Gesellschaft).
Das implizit-formative Lernen beschreibt Lernprozesse, die zum Habituserwerb, zur Bildung einer Erfahrungsstruktur und Einverleibung praktischen Wissens führen. Dabei kommt den anderen große Bedeutung zu, denn das Ich wird sozial konstituiert. Unter dem Primat der Beziehung zu anderen zeigt sich der Mensch verwoben und bezogen auf relationale Subjektivität. Im impliziten und formativen Lernen zeigt es sich darin, dass dieses Lernen meist von, durch und mit anderen geschieht, in der Regel stellt es sich nicht als bewusste Nachahmung, sondern als Mitahmung durch den Mitvollzug von Praktiken dar. Das ermöglicht auch das Konzept mimetischen Lernens, Lernende ahmen andere nach, zunächst nicht bewusst, sondern als präreflexive körperliche Prozesse. Im Hintergrund steht dabei ein Begehren, dem anderen gleich zu werden, man möchte von anderen begehrt werden und begehrt zugleich, was andere begehren. Neben den mimetischen Bezugnahmen stehen die Identität stiftendenden Bezugnahmen anderer.Transformatives Lernen soll die durch implizit-formatives Lernen erworbene Erfahrungs-struktur (z.B. Habitus) verändern und also sich im Bereich der Handlungs- Wahrnehmungs-, Denk- und Urteilsschemata auswirken. Dies geschieht selten absichtlich, oft muss sich etwas Bedeutsames ereignen („Widerfahrnis“, „Bekehrung“). Dafür erscheint ein neuer Kontext wichtig, praktisch geschieht transformatives Lernen implizit. Transformatives Lernen findet im Zwischen der Begegnung von sich, anderen und anderem statt.