Charakter

Vonklausmeiss

Dez 5, 2021

Wir müssen unsere Identität selber erfinden. Die Traditionen verschwinden, Individualisierung und Pluralisierung sind angesagt.  Unsere Gesellschaft fordert Beweglichkeit und lehnt Anpassung geradezu ab. Gehorsam und Verzicht passen nicht mehr in unser Weltbild. Die biografischen Schnittmuster verschwinden. Wir dürfen und müssen die Drehbücher unseres Lebens selber schreiben: entwerfen, inszenieren, realisieren (H. Keupp).

Viele fordern heute Charakterbildung. Der modern Begriff Charakter (grch. charaktär – Prägestempel) wird von Aristoteles bestimmt, der Tugenden als Voraussetzung für ein glückliches Leben sah. Menschen könnten diese Tugenden entwickeln. Das geschehe durch Belehrung, Übung und Gewohnheit. 

Die klassischen Tugenden der Antike sind Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit. Im Christentum standen dann Glaube, Liebe und Hoffnung obenan. Im Mittelalter stellte man dann Tugenden und Untugenden gegenüber: Demut und Hochmut, Mildtätigkeit und Habgier, Keuschheit und Wollust, Geduld und Zorn, Mäßigung und Völlerei, Wohlwollen und Neid, Fleiß und Faulheit. Die Tugenden werden durch Übung und Gewohnheit herausgebildet. Ein deutsches Sprichwort sagt

Säe einen Gedanken und du erntest eine Tat. Säe eine Tat und du erntest eine Gewohnheit. Säe eine Gewohnheit und ernte einen Charakter. Säe einen Charakter und ernte ein Schicksal.

Deutsches Sprichwort

Covey versteht unter Gewohnheiten die Schnittmenge von Wissen, Können und Wollen (Covey 2004: 58f.). Wenn es um meine Lebensrolle als Vater geht, muss ich zum einen wissen, was zum Vatersein gehört: Ich habe meine Kinder nicht nur gezeugt, sondern bin für sie da. Ich versorge sie als Kinder, fordere und fördere sie als Jugendliche, lasse sie ihren Weg ins Leben finden und bin für sie da. Neben diesem Wissen muss ich das auch können: Ich muss sie freigeben und ihnen Halt bieten, ich muss ihnen zeigen, dass ich für sie da bin. Und schließlich muss ich das alles auch wollen.

Unser Reifen als Persönlichkeit geschieht in einer lebenslangen Entwicklung. Wir beginnen als Säugling, der auf seine Eltern angewiesen ist und vor allem Nähe und Wärme seiner Bezugspersonen braucht. Wir sind vollkommen abhängig von unseren Eltern, wir kommen ganz von ihnen her. Sie ernähren und versorgen uns, sie vererbten uns ihre Fähigkeiten usw. 

Dann werden wir allmählich immer unabhängiger: Wir lernen zu krabbeln und zu laufen, wir kommen auf eigene Ideen und probieren etwas aus, wir haben unsere eigenen Gefühle und suchen uns unsere Freunde aus. In der Jugend lösen wir uns (zum Teil heftig) aus unserem Elternhaus ab und werden wir selber. Schließlich haben wir unsere Unabhängigkeit erreicht! Wir sind wir. Wir haben unseren Beruf, verdienen unser Geld und sind nicht mehr auf unsere Eltern angewiesen.

Während viele heute denken, dass dies die Spitze der Entwicklung ist, geht es in Wahrheit weiter. Wenn wir eine eigene Persönlichkeit sind, unabhängig von Eltern und Familie, können wir nun für andere da sein. Eltern, Nachbarn, Gesellschaft haben Jahrzehnte in uns investiert, nun müssen wir etwas zurückgeben. Wir haben einen Beruf, mit dem wir für andere da sind (Lehrer arbeiten für Schülerinnen und Schüler, Handwerker arbeiten für Lehrer, Gesundheitspflegerinnen und Ärzte dienen Kranken, Polizisten sorgen für Ruhe und Ordnung). Wir können entdecken, dass wir in einem ökologischen System leben, in dem alle mit allen verbunden sind, in dem alle voneinander abhängig sind. Wir sind vernetzt und leben in einer vernetzten Welt.

Deshalb müssen wir uns um Vernetzung mühen und für das Miteinander einsetzen. Die einen fordern deshalb Inklusion und lehnen jede Exklusion ab. Der Mensch ist nicht als Egoist gedacht und geschaffen, sondern er ist ein Gemeinschaftswesen. Der Mensch wird nach dem Bild Gottes als Beziehungswesen geschaffen. Martin Buber meint daher, der Mensch werde am Du zum Ich. Schon Aristoteles beschrieb den Menschen als „zoon politikon“, als politisches oder staatenbildendes Wesen. 

Literatur

  • Stephen R. Covey 2004 (1989): Die 7 Wege der Effektivität. Prinzipien für persönlichen Erfolg. Erweiterte und überarb. Neuaufgabe. 15. Aufl. Offenbach: Gabal Verlag
  • Heiner Keupp 2002: Identitätskonstruktionen. Vortrag bei der 5. Bundesweiten Fachtagung zur Erlebnispädagogik. www.ipp-muenchen.de/ texte/identitaetskonstruktion.pdf (abgerufen am 6.12.2019, 9:30)

Viele fordern heute Charakterbildung – manche sind ganz begeistert, manche sehen das eher kritisch. Der Begriff entstammt dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Prägung“. Was prägte Menschen? Wie lässt sich das beschreiben.

Hier gab es viele Ansätze, etwa Galens Temperamente (aktive Sanguiniker, passive Phlegmatiker, aufbrausende Choleriker, nachdenkliche Melancholiker). Diese Temperamente beschreiben Menschen, aber sie sind kein Schicksal.

Aristoteles hat dann die Tugenden als wesentlich für den Charakter und die Haltung bestimmt. Die Kardinaltugenden sind Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. In der näheren Untersuchung sucht er immer ein Mittel, bei der Tapferkeit etwa zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Menschen erwerben diese Tugenden durch Gewohnheit und Übung, dabei sollen sie sich an Vorbildern orientieren.

Im Mittelalter stellt man dann Tugenden und Laster gegenüber, etwa Demut und Hochmut, Mildtätigkeit und Habgier, Keuschheit und Wollust, Geduld und Zorn, Mäßigung und Völlerei, Wohlwollen und Neid, Fleiß und Faulheit. Die Tugenden werden durch Übung und Gewohnheit herausgebildet. In der Erfahrung zeigen sich Menschen für bestimmte Laster empfänglicher als für andere. Die Orientierung an Gottes Geboten und an den Heiligen als Vorbildern soll Menschen helfen, tugendhaft zu leben.

Heute beschreiben etwa die Big Five wesentliche Merkmale der Persönlichkeit: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Verträglichkeit und Verletzlichkeit. Viele dieser Merkmale scheinen vererbt. Diese Beschreibungen sind zunächst einmal aufschlussreich, auch sie sollte man nicht als Schicksal betrachten.

Am Leben von Dietrich Bonhoeffer lässt sich Charakter studieren. Dazu lade ich hier ein!