Wir leben im Beschleunigungsrausch – und kommen nicht mehr mit! Beschleunigung ist kein Unwert, wie auch Langsamkeit kein Wert an sich darstellt. Beschleunigung hat ihre Vorzüge: Wenn wir Feuerwehr, Polizei oder Notarzt alarmieren, wünschen wir uns eine schleunige Ankunft. Wenn es um das Reifen von Menschen geht, wird sich Beschleunigung als Dummheit erweisen. Über die Zeit und ihre Wirkung auf uns Menschen wollen wir nachdenken.
Betrachten wir die Zeit systematisch, lassen sich verschiedene Aspekte erkennen: Zunächst hat die Zeit eine lineare Seite, die Zeit vergeht und kommt nicht mehr zurück. Wir sprechen vom „Fluss der Zeit“, von der Lebenszeit, die wir haben, den Zeiten, die vergehen und die wir am Kalender beobachten und planen können. Im Alten Testament kommt dieser Aspekt der Zeit etwa beim Handeln Gottes zur „Zeit der Väter“ (Abrahams, Josuas, Samuels) zum Ausdruck. Diese lineare Seite nannten die Griechen chronos. Chronos zeigt den Wandel und die Entwicklung (etwa das Wachstum) an. Um diese Zeiterfahrung der messbaren Zeit dreht sich in der Moderne alles, sie wird präzise gemessen und geplant: Es dauert eine bestimmte Zeit, ein Buch zu lesen, eine Unterrichtsstunde vorzubereiten, ein Essen zu kochen und zu sich zu nehmen, das Geschirr zu spülen, etwas herzustellen oder zu reparieren.
Neben dieser linearen Erfahrung mit der Zeit erscheint sie uns zyklisch: Nach einer gewissen Zeit stellt sich ein ähnlicher Zustand wieder ein, wie er vorher bestanden hat. Das gibt dem Geschehen Stabilität und Verlässlichkeit (z.B. Tag und Nacht als Zeiten des Aufstehens und des Ruhens oder die Jahreszeiten als Zeiten des Säens, Wachsenlassens und Erntens). Nomaden und Bauern haben gelernt, was wann zu tun (oder zu lassen) ist, sie geben diese Kompetenzen an nachfolgende Generationen weiter. Früher richtete sich der individuelle Tagesrhythmus vollständig nach den natürlichen Erfahrungen (bei Tag arbeitete man, nachts schlief man).
Im Alten Testament werden diese Zeitvorstellungen an den Schöpfer gebunden, der auch die Zeiten geschaffen hat, der allem seine Zeit und Stunde zuweist (Gen 1,14, Ps 104,19-24). Meist kommt die Reproduktion aus zyklischen Prozessen (Reifen von Gemüse, Wachsen von Tieren). Die zyklische Zeiterfahrung finden wir beim Prediger, wenn er festhält „Alles hat seine Zeit […]: Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Ausreißen, was gepflanzt ist […] Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen“ Pred 3,1-3).
Die Griechen sprechen schließlich noch vom kairos, die günstige oder richtige Gelegenheit, etwas zu tun. Eine kritische Situation fordert uns heraus, etwas zu tun oder zu lassen: Wir sehen uns in eine Entscheidung gestellt! Im Neuen (wie bei den Propheten im Alten) Testament wird die lineare wie die natürlich-rhythmische Zeit immer wieder von Gott durchbrochen, wenn er sich etwa in Jesus Menschen offenbart. Nun ist ein „neues Denken“ gefordert, Umkehr angesichts des anbrechenden Neuen (Mk 1,15). Angesichts der Botschaft von der Auferstehung Jesu geht die gute Nachricht in die Welt, die Glaubenden, die durch die Begegnung mit Gott zum Umdenken gekommen sind, werden auch zu neuem Handeln aufgerufen, die verbleibende Zeit soll zum Tun des Guten genutzt werden (Gal 6,10, Eph 5,16): Hingabe an Gott und den Nächsten, für andere da sein und ihnen dienen. Das zeigt einen umfassenden Transformationsprozess an, der seit der Auferstehung im Gange ist und die Welt zu verändern beginnt.
Als vierter Aspekt kommt die Unterscheidung von Systemzeit und Eigenzeit hinzu. Mit Systemzeit bezeichnet man, wie lange ein Mensch durchschnittlich benötigt, etwas zu erreichen (etwa von Marburg nach Kassel zu kommen) oder seine ursprüngliche Gleichgewichtslage wieder zu erlangen (etwa ausgeschlafen zu haben).
Wenn wir dagegen davon reden, wie lange ein bestimmter Mensch unter ganz bestimmten Umständen für etwas braucht, sprechen wir von der Eigenzeit. Sie ist einmal von dem konkreten Menschen abhängig, seinen besonderen Fähigkeiten und seiner ihm eigenen Geschwindigkeit. Um nach Kassel zu kommen, ist die Dauer von der Verfassung des Reisenden abhängig. Vielleicht fährt sie sehr vorsichtig und rücksichtsvoll, vielleicht ist er müde, weil er schon lange unterwegs ist. Vielleicht ist sie mit dem Fahrrad unterwegs.
Hier zeigt sich der Unterschied des Menschen zur Maschine, bei der jeder Schritt genauestens getaktet und berechenbar ist. Schließlich spielen auch die äußeren Umstände ihre Rolle: Vielleicht ist die Straße nach Kassel vereist oder die Sicht wird durch Nebel behindert.
Unsere Eigenzeit hat einen zyklischen Aspekt: Wenn eine Arbeit abgeschlossen werden kann, ist man für Neues offen und bereit. Wir haben aus einer Handlung etwas gelernt, insofern hat sich etwas verändert und der neue Zustand ist für uns nicht ganz so, wie er vorher war. Werden wir dauernd unterbrochen, dann reicht die vorhandene Zeit nicht aus, und wir werden dann nicht fertig – das erleben wir häufig als ärgerlich. Zufrieden sind wir, wenn wir etwas abschließen können, uns über das Ergebnis freuen, vielleicht auch Neues gelernt haben. Davon erzählen wir anderen oder hören ihnen bei ihren Erfahrungsberichten zu – so lernen wir von ihnen. Vieles braucht seine eigene Zeit, kann weder beschleunigt noch verzögert werden.