Nördlich des Römischen Imperiums siedeln um Christi Geburt Germanische Stämme. Sie siedeln in kleinen Dörfern und in Einzelgehöften, leben von Ackerbau und Viehzucht. Ihre Religion verehrt vor allem Wodan (Odin), Donar (Thor) und Tiwaz (Ziu, Tyr), sie kennen keine Schriftsprache. Immer wieder unternehmen sie Raubzüge ins Römische Reich, dort finden sie Metalle und Sklaven. Sie handeln aber auch mit den Römern, denen sie Bern-stein und Felle anbieten.
Im 3. Jh rauben Goten die Vorfahren von Christen, die unter den Goten auf dem Balkan leben. Der Gote Wulfila (311-383) hat einen gotischen Vater, seine Mutter stammt von entführten Christen ab. Die verschleppten Christen bezeugen das Evangelium in ihrer neuen Umgebung. Es entsteht eine kleine Gemeinde. Schon Wulfila wächst in der Gemein-schaft von Christen auf. Mit 30 Jahren nimmt er an einer Gesandtschaft der Goten zum Kaiser in Konstantinopel teil. Bischof Euseb von Nikomedien weiht ihn zum Bischof unter den Goten (etwa 336).
In der Folgezeit bekehren sich viele Goten, eine lebendige und wachsende Gemeinde ent-steht. Der nichtchristlichen Mehrheit der Goten wird das Wachstum der Christen bald unheimlich und sie verfolgen die Christen. Schließlich flieht die christliche Minderheit ins christliche Römische Weltreich ins Gebiet des heutigen Bulgarien und Rumänien. Dort le-ben die Gotenchristen als Hirten, bleiben sesshaft und friedlich.
Wulfila entwickelt eine gotische Schriftsprache und übersetzt große Teile der Bibel ins Gotische. So führt die Mission erstmals umfassend einen Zivilisationsschub herbei: Die Goten können nun schriftlich kommunizieren.
Wulfila folgt einer Vision. Die Samuel- und Königsbücher von der kriegerischen Land-nahme Israels übersetzt er nicht. Er befürchtet wohl, dass seine germanischen Verwand-ten sich allzu sehr mit den blutigen Eroberern identifizieren könnten. Dazu passt auch seine Übersetzung des Begriffes „Christus“. Er benutzt dazu das gotische „Nasjands“ (von got. genesen). Christus ist nicht so sehr Herr und König, sondern er ist der Heilende und Helfende. Das neutestamentliche Agape (Liebe) überträgt er mit dem gotischen Wort für Freundschaft, so können die Goten es besser verstehen, auch wenn der volle Wortsinn der neutestamentlichen Liebe so nicht erfasst wird.
Die gotische Bibelübersetzung wird unter den ostgermanischen Völkern bald zum Export-schlager. Als 375 die Hunnen aus dem Osten nach Westen vordringen, bedrohen sie nicht nur das Römische Imperium, sondern auch die vor dessen Grenzen siedelnden Germa-nenvölker wie die nichtchristlichen Goten. Im Kampf vor den Hunnen wenden sie sich an die Römer um Hilfe und werden im Gebiet der christlichen Goten angesiedelt. Schon bald werden sie Christen.
Als andere germanische Völker wie die Wandalen ihre Wanderungen von Ost-Europa bis nach Nordafrika beginnen, kommen auch sie mit den gotischen Christen in Berührung und werden Christen. Als die Römer sich fragen, warum die Germanen ihnen überlegen sind, berichten die Römer immer wieder, dass sie selbst zwar durch Waffen und Truppen überlegen seien, aber die Wandalen sich auf das Buch des göttlichen Gesetzes verließen. Die Wandalen haben die Bibelübersetzung Wulfilas dabei, daraus leben sie, die nehmen sie mit.
Gert Haendler 1984: Wulfila. In: Gestalten der Kirchengeschichte hrsg. V. M. Greschat. Stuttgart: Kohlhammer