Prediger, Erzieher und Sozialreformer

Chalmers (1780-1847) stammte aus der schottischen Kleinstadt Anstruther, wo seine bürgerliche reformierte Familie in eher bescheidenen Verhältnissen lebt, seine Mutter sich in der Armenfürsorge engagiert und die zwölf Kinder aufzieht.

Thomas Chalmers

Bereits mit elf Jahren geht er 1791 an die Universität, wo er nicht gerade leidenschaftlich Theologie studiert, 1799 wird er als Pfarrer der Kirche von Schottland angestellt. Viel mehr interessieren ihn die modernen Naturwissenschaften, besonders Mathematik und Physik. Seit 1802 ist er Pfarrer einer kleinen Gemeinde, wo er aber nur sonntags seiner Predigtverpflichtung nachkommt. Unter der Woche widmet er sich seinen naturwissenschaftlichen Studien, denn eigentlich strebt er eine Universitätskarriere an. Nachdem er an der Universität keine Anstellung als Naturwissenschaftler findet, wendet er sich der Volkswirtschaftslehre zu, kritisch setzt er sich mit den wirtschaftsliberalen Theorien von Adam Smith auseinander. 1800 erkrankt Thomas an der Lunge, erst 1811 kann er die Krankheit hinter sich lassen. In den schweren Krankheitstagen beschäftigt er sich mit den Schriften der schottischen evangelikalen Bewegung. Allmählich verändert sich seine Vision vom Leben, als er seine Predigttätigkeit wieder aufnimmt, sucht er seine Hörer aufzurütteln, immer mehr Menschen fühlen sich angezogen vergrößern seine Gottesdienstgemeinde. Ab 1813 besucht er seine Gemeindeglieder zu Hause, beginnt eine Samstagsschule zur religiösen Unterweisung, unterstützt die überseeische Mission und kümmert sich um die Armen. 1814 bekommt er eine neue Gemeinde, und zwar in Großstadt Glasgow.
1823 wechselt Chalmers aus dem Gemeindedienst an die Universität, möchte er doch seine Reformideen als theologischer Lehrer weitergeben. Später wird Chalmers im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Kirche von Schottland gegenüber dem Staat bekannt.

Hintergründe

Auch in Schottland wachsen die Großstädte im 19. Jh. unaufhörlich. Während einerseits die Industrialisierung rasch vorankommt, leidet die Wirtschaft auch nach den napoleonischen Kriegen an einer wirtschaftlichen Depression. Viele Arbeiter sind arbeitslos und können ihre Familien nicht mehr ausreichend ernähren. Das macht sie zu Almosenempfängern.

In diesen schweren Jahren strömen zahlreiche Migranten aus Irland ins Land, viele von ihnen finden auch in Schottland kein Auskommen. Ihre Situation ist besonders schwer, weil sie als Katholiken im evangelischen Kontext auf sich allein gestellt sind.

Viele Kirchengemeinden bestehen aus über 10.000 Mitgliedern, das sind weit mehr Menschen, als sich in vorhandenen Kirchen versammeln können. Auch eine seelsorgerische Betreuung durch den Gemeindepfarrer ist in diesen Riesengemeinden nicht möglich. Wie andere auch versucht Thomas Chalmers Gemeinden zu verkleinern und  neue Kirchen zu bauen.

Vision

Chalmers übernimmt die Gemeinde Saint John in einem Arbeiterbezirk von Glasgow.Seine Vision: Er will eine Gesellschaftsreform ausgehend von der Kirchengemeinde verwirklichen.

Der Stadt macht er das Angebot zu zeigen, wie man die Lebensverhältnisse der Arbeiter verändern kann. Zusätzlich verspricht er die städtischen Ausgaben für Almosen in seiner Gemeinde abzuschaffen, dadurch kann die Stadt über 300 Pfund im Jahr sparen. Chalmers denkt stark von seinem Kirchenbezirk her: Jeder Bewohner des Gebietes soll durch die Nachbarschaft versorgt werden, dabei unterscheidet er nicht zwischen Evangelischen, Katholiken und Juden. In seiner Zeit ist das eine bemerkenswerte Vorstellung, denn gegenüber den Katholiken haben Evangelische erhebliche Vorurteile. Chalmers propagiert: Kirche ist für alle da!

Handlungsmuster

Zunächst erfasst Chalmers die statistischen Daten seiner Gemeinde, zu der 10.513 Menschen gehören, die in 2237 Haushalten leben. Über die Hälfte der Menschen arbeiten in der Textilindustrie, die damals erhebliche wirtschaftliche Probleme hat. Bewusst geht er von den Möglichkeiten der christlichen Gemeinde aus. Die St. John Gemeinde wird auf 25 Gemeindebezirke aufgeteilt; 400 Menschen gehören so zu einem Bezirk. Freiwillige besuchen nun regelmäßig alle Haushalte. Chalmers gründet dazu eine Geschäftsstelle, bei der sich Freiwillige melden können; sie werden den 25 Kirchenältesten und Diakonen zugeordnet.

Pfarrer, Lehrer, Presbyter und Sonntagsschulmitarbeiter gehen in die Familien, um sie in ihrem Umfeld kennen zu lernen. Die Diakone unterstützen die Armen dabei, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Sie vermitteln Arbeit und geben praktische Tipps zum Leben: Sparsamkeit oder Enthaltsamkeit. Sind die Armen zur Arbeit nicht in der Lage, sucht man Nachbarn und Verwandte als Helfer zu aktivieren, als letzte Möglichkeit erhalten Sie Geld aus den kirchlichen Kollekten. Durch den Besuchsdienst werden die Nachbarschaften aktiviert, die Menschen sollen Beziehungen zueinander knüpfen, wie es in den Dörfern normal, aber in den wachsenden Städten unüblich ist. So sollen solidarische Gemeinschaften entstehen, die füreinander eintreten, niemand wird ausgegrenzt oder diskriminiert.

Chalmers aktiviert also das Selbsthilfepotenzial der einzelnen und die Verantwortungsbereitschaft der Kirchengemeinden.Die Mitarbeiter sind alle Ehrenamtliche – Männer und Frauen – die sich zur Mitarbeit berufen wissen. So arbeiten zwei Pfarrer und vier Lehrer hauptamtlich, aber 25 Älteste, 25 Diakone und 50 Sonntagsschulmitarbeiter ehrenamtlich. Eine stattliche Zahl!

Im Zentrum der Arbeit stehen die Armen, die aufgrund eines besonderen und aktuellen Problems ihre Familie nicht mehr versorgen können. Daneben gehören viele auch zum „Pauperismus“, sie benöigen regelmäßig eine Unterstützung. Da diese Menswchen dauerhaft abhängig und stigmatisiert sind, bekämpf Chalmers besonders diese Form von Abhängigkeit: Diakonie soll diesen Armen dabei helfen, einen eigenen Selbstwert zu entdecken und zu entwickeln, um so die Lebensbedingungen möglichst selber zu verbessern. Dazu sollen sie durch persönliche Betreuung ermutigt und durch Beratung und Schulung befähigt werden. Auch den Schulen kommt hier für die nächste Generation eine große Bedeutung zu.

Durch die Arbeiten in den Nachbarschaften werden Gemeinschaften gefördert und nicht nur Individuen, ganz bewusst setzt Chalmers auf die positiven Wirkungen der Gruppe. Die Diakone helfen den Armen, sich von der Armenfürsorge zu befreien. Dazu arbeiten sie in festgelegten Regionen mit einem bekannten Personenkreis.

Außerdem gründet Chalmers vier Gemeindeschulen, in denen ihnen Arbeiterkinder einen qualifizierten Schulunterricht besuchen können. Nur Kinder aus dem Stadtteil soillen aufgenommen werden. So legt er einen soliden Grund für ihre Zukunft.

Folgen

1837 muss Chalmers die Arbeit einstellen, die Schulden der Gemeinde sind immer mehr gewachsen, wieder muss die Stadt einspringen. Im Hintergrund macht die Wirtschaftskrise die Arbeit unmöglich.

Während seine Arbeit noch geschieht, entwickelt Chalmers das Konzept der Sozialtheologie, die die Arbeit systematisch reflektiert und beschreibt. Chalmers Ideen werden auch auf dem Kontinent aufgenommen, Otto von Gerlach (1801-49) veröffentlicht 1847 verschiedene Texte von Chalmers, im Wuppertal werden die Impulse von Pfarrern aufgenommen. Auch Wichern hat in seiner Denkschrift zur Inneren Mission die Anliegen und Ideen von Chalmers aufgenommen.

Literatur

Stewart J. Brown 1985: Thomas Chalmers. In: Martin Greschat 1985: Die neueste Zeit I (= Gestalten der Kirchengeschichte 9,1). Stuttgart: W. Kohlhammer S. 172-186; Klaus Meiß (2011): Kirchengeschichte zwischen Moderne und Postmoderne. 412ff.