Wolfgang Ischinger hat 2018 ein Buch über Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten geschrieben. Er war Staatssekretär im Außenministerium, deutscher Botschafter in Washington (DC) und London, deutscher Unterhändler in verschiedenen Konflikten und schließlich verantwortlich für die Münchner Sicherheitskonferenz.

… aus den Fugen

Als das Buch erschien, war die Welt bereits aus den Fugen: 2014 hatte Putin die Krim annektiert und den Konflikt in der Ostukraine angezettelt. In Syrien herrschte seit Jahren Bürgerkrieg, Millionen Menschen waren auf der Flucht nach Europa. In Afrika herrschte mancherorts andauernd Krieg und Bürgerkrieg. In Afghanistan erstarkten die Taliban und der Islamische Staat sammelte neue Terrorkräfte. In Asien gab es die Konflikte zwischen China und Taiwan oder um Bergkarabach. 2017 trat Trump als Präsident der USA an und stellte alte Gewissheiten in Frage.

Westliche Werte wie Demokratie, freie Wahlen, Minderheitenschutz, Pressefreiheit oder Rechtsstaatlichkeit werden in Frage gestellt. Die Konflikte in Hongkong zeigen das genauso wie die politische Entwicklung in Russland. Und auch in der EU gibt es Länder, die etwa Pressefreiheit einschränken.

Probleme mit der Sicherheit

Frieden und Stabilität sind heute schwerer zu sichern. Ischinger nennt dazu fünf Gründe:

  • 1. Wir erleben einen machtpolitischen Epochenbruch: Während China aufsteigt, nimmt der Einfluss Amerikas und Europas ab. Mit Chinas Bedeutung steigen auch andere Werte auf, die mit den westlichen konkurrieren.
  • 2. Wir beobachten den Verlust der Wahrheit und des Vertrauens zwischen Staaten durch Cyberangriffe oder  Fakenews, die selbst Einfluss auf Wahlen nehmen.
  • 3. Verlust der Prognosefähigkeit: Als 2014 in der Ukraine Menschen für die Freiheit demonstrieren, rechnete niemand mit der bald darauf erfolgenden Annektierung der Krim. Keiner rechnete mit einem Brexit, niemand hatte den Islamischen Staat auf dem Schirm.
  • 4. Verlust des nationalstaatlichen Machtmonopols – globale Ansätze sind nötig, um globale Probleme zu lösen: Umweltverschmutzung, Terrorismus und Pandemien lassen sich nicht mehr national lösen.
  • 5. Die Natur von Konflikten ändert sich: Bürgerkriege bestimmen die Kriege, Cyber-Angriffe können die Stromversorgung lahmlegen, Drohnen aus großer Entfernung eingesetzt werden.

2018 schien sich Amerika unter Trump aus der Welt zurückzuziehen. Europa sonnte sich selbst in Sicherheit und wollte keine weiteren Anstrengungen für seinen Verteidigungshaushalt unternehmen. In Deutschland lautete die Parole: „Wir sind von Freunden umzingelt!“ 

neue Bedrohung

Aber seit 2014 erschien eine neue Bedrohung durch Russland in Osteuropa: durch die Annektierung der Krim und das Schüren des Bürgerkriegs in der Ostukraine. Der Einfluss Russlands auf die ehemaligen Sowjetrepubliken Weißrussland, Kasachstan, Aserbeidschan, Armenien usw. beruht auf den wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeiten. Die baltischen Staaten, die Ukraine und Moldau wendeten sich längst dem Westen zu und suchten nach Aufnahme in NATO und EU. Und die ehemaligen Vertragsstaaten des Warschauer Pakts (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien und Bulgarien) waren diesen Weg nach Westen bereits gegangen.

Nach dem Zusammenbruch des Ostens sah Gorbatschow Europa als „gemeinsames Haus“. Aber aus dem Blick geriet, dass sich die Dinge in Russland anders entwickelten als im Westen. Während der Westen auf Kooperation und Miteinander setzt, setzte Russland weiter auf Macht und Dominanz über andere. Während der Westen die Souveränität der Staaten respektiert und Allianzen schließt, sieht Russland auf Abhängigkeit und Bedrohung. 

Aus westlicher Sicht hat Russland im Westen sichere Grenzen, aus Putins Sicht werden diese Grenzen durch die Osterweiterung der NATO bedroht. Dabei hat Russland 1997 in der NATO-Russland-Grundakte die Osterweiterung grundsätzlich akzeptiert. Die weiteren Schritte wurden jeweils mit Russland abgestimmt.

Mit der Annektierung der Krim und dem Krieg in der Ukraine hat Russland einseitig die Verträge seit den 1970er Jahren aufgekündigt:

  • In der KSZE Schlussakte von Helsinki wurde 1975 die Unverletzlichkeit der Grenzen geregelt
  • im Budapester Memorandum wurden 1994 der Ukraine Sicherheitsgarantien dafür gegeben, dass sie ihre Atomwaffen an Russland übergab
  • in der NATO-Russland-Grundakte wurde ein Miteinander geregelt und die Osterweiterung ermöglicht

Souveränität und Schutzverantwortung

Die Souveränität der Staaten verbietet das Einmischen anderer in ihre inneren Angelegenheiten, das ist völkerrechtsmäßig unstrittig. Allerdings kam am Ende des 20. Jh. die Diskussion darüber auf, ob man Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen einfach hinnehmen kann. Der Völkermord in Ruanda und Bosnien führten zu dem Schluss, dass die nationale Souveränität da ihre Grenzen findet, wo eine Regierung ihr Volk nicht schützt, sondern umbringt. Hier hat die internationale Gemeinschaft  eine Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“ – R2P). Nach diesem Prinzip hat die NATO in Bosnien und Libyen eingegriffen.

Das Mandat für solches Eingreifen sollte von der UN kommen, was allerdings durch die Interessen der 5 Vetomächte schwierig wird: Die Kosovo-Intervention  1999 wäre am Veto Russlands gescheitert, die NATO berief sich dann auf einen politisch-moralischen Notstand, auf den sich nun andere auch berufen können! Außerdem sollten die Länder der Region das Eingreifen mittragen. Im Falle von Libyen tat das die Arabische Liga. Schließlich muss das Ziel klar und erreichbar sein. Eine reine Militäraktion kann im Chaos enden, wie in Syrien und Libyen. Sie kann aber auch ihr Ziel erreichen, wie es am Beispiel Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg sichtbar wird.

Frieden ohne Waffen

In Deutschland herrschte lange Zeit die Vision, dass Frieden ohne Waffen zu schaffen wäre. Im Kosovokonflikt musste dann auch die Bundeswehr in ihren ersten Auslandseinsatz ziehen, um den Völkermord mit anderen Staaten zu beenden. Nach dem Bosnienkrieg war allen Zuschauern ihre Mitverantwortung klar: Nichthandeln kann Schuld schaffen. 

Der Bürgerkrieg in Syrien zeigte, dass Europa nicht in der Zuschauerrolle ist. Die Menschen flohen nicht nach Russland oder nach Ägypten. Sie zogen nach Europa, das ihnen Sicherheit zu geben schien. Welche Verantwortung muss übernommen werden? 

Europas Rolle

Europa muss seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen. Der weitere Ausbau Europas nach innen ist wichtig, er schafft Frieden in unserer Region. Nur gemeinsam wird man in der Welt von heute von den USA, Russland und China ernst genommen. Wenn Europa auf Strafzölle gemeinsam reagiert, hat das eine wirtschaftliche Bedeutung. Dem wirtschaftlichen Gewicht muss aber auch eine eigene militärische Stärke und Überzeugungskraft entsprechen. Die Präsidentschaft von Trump hat gezeigt, dass Amerika sich auch einmal abwenden kann. Was wäre gewesen, wenn die USA die NATO aufgegeben hätten? Wünschenswert wäre also auch außenpolitisch eine europäische Stimme, die eigenes Gewicht hat. Schon militärisch kann Europa mit den USA, Russland und China kaum mithalten. Die USA, Russland und China treten selbstbewusst auf. Was kann Europa tun?

„In Europa gibt es nur zwei Typen von Staaten: kleine Staaten und kleine Staaten, die noch nicht verstanden haben, dass sie klein sind.“ (251). Insgesamt wächst die Wirtschaft in der Welt, aber der europäische Anteil nimmt relativ im Vergleich zu China ab. Auch die demografische Entwicklung in der Welt verläuft ähnlich. Während viele Länder autoritär und unfreiheitlich regiert werden, muss auch Europa für seine Interessen und seine Werte kämpfen.

Welche Rolle spielt Deutschland? Wegen zweier Weltkriege will sich Deutschland aus allen Konflikten heraushalten. Lange wurde das respektiert. Aber nach der Wiedervereinigung wurde immer wieder Deutschland auch an seine Verantwortung in der Welt von heute erinnert, nicht alles lässt sich mit dem Scheckbuch regeln! „Man kann nicht mit der eigenen schweren Kindheit alles entschuldigen. Irgendwann muss man Verantwortung übernehmen.“ Unsere große Abhängigkeit von einem funktionierenden Welthandel lässt uns internationale Krisen schnell spüren. Und dazu gehört auch eine einsatzfähige Armee, die auch die eigenen Grenzen schützen kann.

Während Russland sein Militärbudget wie China ausbaut, ist das Budget in Europa gesunken. Schon sehr lange wird ein Anteil von 2% des BIP gefordert, die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Neben der Modernisierung der traditionellen Waffensysteme geht es auch den Einsatz neuer Technologien. Ischinger meint, dass man aber neben den militärischen Ausgaben auch die Forschung und den Einsatz für den Frieden mitkalkulieren muss.

Deutschland kann sich nur mit der EU profilieren und sollte seine Kraft Europa zur Verfügung stellen. Dazu gehört zunächst eine gute Abstimmung mit Frankreich. Beide Länder sollten wieder die Zugpferde für Europa werden. Die Militärausgaben lassen sich wohl auch durch eine europäische Zusammenarbeit besser sortieren. Zur Zusammenarbeit gehört auch die Frage, welcher Staat welche Waffen vorhält – braucht es eine deutsche Marine für die Ostsee? Welche Einsparungen lassen sich durch gemeinsame Beschaffungen (Gewehre, Flugzeuge, Schiffe) erzielen? Welchen Beitrag kann eine deutsche strategische Kultur in und für Europa bedeuten? 

Reflexion

Die Aufnahme von Flüchtenden Menschen aus Syrien war humanitär richtig, der von Deutschland gegenüber der EU aufgebaute Druck falsch. So schafft man nicht Vertrauen. Die große Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen aus der Ukraine zeigt, dass auch die anderen Staaten Europas humanitären Zielen verpflichtet sind. Allerdings erhebt sich die Frage, ob Deutschland in der „Flüchtlingskrise“ seine eigenen Aufgaben für eine geordnete Zuwanderung gemacht hat. Außerdem fehlte in der Flüchtlingskrise jedes erkennbare deutsche und europäische Konzept für einen Frieden in Syrien.

Der Kampf gegen die Pandemie hat gezeigt, dass wir nur gemeinsam gegen die gesundheitliche Bedrohung vorgehen können. Das Schließen der Grenzen bei Ausbruch der Pandemie war ein Fehler. Der Angriffsbefehl Putins gegen die Ukraine lässt eine neue Zeit entstehen. Mitten in Europa gibt es nun nicht nur Freunde. Putin will offenbar den alten Einfluss auf Osteuropa wieder herstellen. Wird er in Moldau Halt machen? Lange haben Amerikaner und manche Europäer vor einer Abhängigkeit vor russischem Gas gewarnt, wir haben das nicht ernst genommen. Nun suchen wir verspätet nach Alternativen. Lange haben wir nicht wahrhaben wollen, dass sich die Richtung der russischen Außenpolitik geändert hat. Nun sehen wir zu, was in der Ukraine geschieht. Während manche eine Flugverbotszone fordern und offenbar einen Atomkrieg hinnehmen, setzen andere auf Sanktionen, füllen aber täglich die Kriegskassen Moskaus mit der Abnahme von Gas, Öl und Kohle. 

Literatur

Wolfgang Ischinger 2018: Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten. Berlin: Ullstein